Cox's Bazar Rohningya Refugee Camp Bangladesh | © Patrick Rohe

Vertreibung und globale Migration

Die Rolle und «Hebel» der Schweiz
VON: Patrik Berlinger - 09. Juni 2023
© Patrick Rohe

Die internationale Migration nimmt zu. Fehlende wirtschaftliche Perspektiven, gewaltsame Konflikte, die Klimakrise und Staaten, die unfähig sind, grundlegende Dienstleistungen zu garantieren, zwingen immer mehr Menschen dazu, anderswo ihre Existenz und ihr Überleben zu sichern. Die Schweiz hat verschiedene Möglichkeiten, Flucht- und Migrationsursachen zu mindern. Sie sollte diese Hebel stärker nutzen. 

281 Millionen Menschen leben laut dem aktuellen World Migration Report 2022 nicht mehr in ihrem Herkunftsland. Eine grosse Zahl, die verdeckt, dass nur eine von 30 Personen über Grenzen hinweg migriert – die meisten davon regulär aus beruflichen oder familiären Gründen. Weil sich Migrations- und Fluchtursachen vervielfacht haben, hat die Migration über die vergangenen Jahrzehnte stark zugenommen. Mit je rund 86 Millionen leben die meisten Migrant:innen in Europa und Asien. Am schnellsten jedoch wächst die Migration in Lateinamerika und der Karibik. Seit 2005 hat sich in dieser Region die Zahl der Menschen, die grenzüberschreitend migrieren, beinahe verdoppelt.  

Zu den wichtigsten Herkunftsländern von Migrant:innen gehören Indien, Mexiko, Russland, China, Bangladesch, Philippinen und Pakistan. Zu den Top Destinationen gehören die USA, Deutschland, Grossbritannien und Frankreich. Im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung beträgt der Anteil von Migrant:innen in Nordamerika knapp 16 Prozent. In europäischen Ländern machen Migrant:innen durchschnittlich 11,6 Prozent der Bevölkerung aus. Deutlich tiefer liegt der Anteil in Asien (1,8 Prozent), Afrika (1,9) und Lateinamerika (2,3). In den Ländern des Golf-Kooperationsrates – Bahrain, Kuwait, Oman, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – sind hingegen mehr als die Hälfte der ansässigen Bevölkerung internationale Migrant:innen. Obwohl sie an vorderster Front und zum Wohl der Allgemeinheit arbeiten – in Spitälern und Arztpraxen, als Produzent:innen und Verkäufer:innen lebenswichtiger Güter, als Reinigungspersonal, im Transportwesen und der Logistik oder als Erntehelfende und Landwirt:innen – haben Migrierende vielerorts kaum Rechte und erfahren wenig Wertschätzung. 

Angetrieben durch autoritäre Regimes, durch langwierige Konflikte und neue Wellen von Gewalt, ist auch die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen stark angestiegen – allein in den vergangenen acht Jahren von 65 Millionen (2015) auf 117 Millionen (2023). Sieben von zehn über Grenzen hinweg geflüchteter Menschen stammen aus Syrien, Venezuela, der Ukraine, Afghanistan und dem Südsudan (Stand: Oktober 2022). Die grösste «Last» bei der Aufnahme von Geflüchteten Menschen (in Relation zur nationalen Wirtschaftskraft und zur einheimischen Bevölkerung) tragen arme Länder im Süden – Länder wie Kolumbien und Pakistan, der Tschad, Niger und Uganda, oder der Libanon und Jordanien. 

Wichtige, aber oftmals verkannte Arbeit 

Die Bedeutung der Migration ist für viele ärmere Länder gross. Allein die Rimessen, also das Geld, das im Ausland arbeitende Migrant:innen in ihre Heimatländer zurücksenden, betrugen laut Weltbank 2022 rekordhohe 626 Milliarden US-Dollar. Davor waren die Überweisungen seit 2010 stetig gestiegen, mit einem kurzen Einbruch im Jahr 2020 wegen Reiserestriktionen, Quarantänevorschriften und Wirtschaftseinbussen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie. Seit Mitte der 1990er Jahre übertreffen die Rimessen die öffentlichen Ausgaben der wohlhabenden Länder für Entwicklungszusammenarbeit deutlich. Die «Official Development Assistance» (ODA) stieg 2022 zwar auf ein Allzeithoch von 204 Milliarden US-Dollar und damit real um 13,6 Prozent gegenüber 186 Milliarden im Jahr 2021. Aber das nur, weil die Industrieländer ihre Ausgaben für humanitäre Hilfe für die Ukraine und für die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen im eigenen Land erhöht haben. 

Die Rücküberweisungen tragen nicht nur zur Existenzsicherung, sondern auch zur Entwicklung bei: So machen sie z.B. in Honduras, Jamaica und Haiti mehr als 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus, in Tadschikistan und Kirgistan über 30 Prozent, im Libanon knapp 40 Prozent, und in den subsaharischen Ländern Gambia und Lesotho 28 resp. 21 Prozent. Die Länder profitieren vom Know-how-Transfer und dem Investitionspotential ihrer Diaspora. Die Zielländer wiederum profitieren von hoch- und niedrigqualifizierten Arbeitskräften, Wissen, Innovation und internationaler Vernetzung, aber auch durch Steuer- und Sozialbeiträge sowie kulturelle Vielfalt. 

Internationale Zusammenarbeit für mehr Sicherheit und Stabilität 

Der Internationalen Zusammenarbeit (IZA) kommt eine wichtige Rolle zu, um Not von Flüchtlingen zu lindern und bessere Bedingungen für Migrierende zu erreichen. Entwicklungszusammenarbeit zielt darauf ab, Menschen in ihren eigenen Ländern ein Auskommen zu ermöglichen und nachhaltige Lebensperspektiven vor Ort zu verbessern. Mit ihren langfristigen Programmen – in Bereichen wie Schul- und Berufsbildung, Gesundheits- und Wasserversorgung, Förderung lokaler Wertschöpfungsketten und Privatsektor-Entwicklung, Anpassung an die Folgen des Klimawandels – trägt Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich dazu bei, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen zu schaffen, die den Migrationsdruck lindern. Gezielte Entwicklungsprojekte unterstützen Menschen ausserdem darin, ihre Migration sorgfältig zu planen, um sich und die Familienangehörigen abzusichern. Solche Projekte schützen die Migrant:innen vor Ausbeutung und Missbrauch in Herkunfts-, Transit- und Aufnahmeländern und fördern die Durchsetzung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen. 

Entwicklungszusammenarbeit stärkt auf einer übergeordneten Ebene Demokratie, Menschenrechte und die Zivilgesellschaft. Funktioniert ein Land, kann die Bevölkerung an der Entwicklung teilhaben und werden Minderheiten nicht verfolgt, so gibt es weniger Grund zur Flucht. Weil jedoch die Möglichkeiten der Entwicklungszusammenarbeit in Asyl-Herkunftsländern, wo es zu Verfolgung, Gewaltkonflikten, Menschenrechtsverletzungen und Repression kommt, eingeschränkt sind, braucht es zur Linderung der Not von Vertriebenen vor Ort und unterwegs Humanitäre Hilfe. Angesichts des steigenden humanitären Bedarfs und der Hilfsappelle der UNO gilt es, das humanitäre Engagement auszubauen

Damit die Entwicklungszusammen-, Menschenrechts- und Friedensarbeit ihre volle Wirkung erzielt, muss die Schweiz gleichzeitig in ihren aussenpolitischen Beziehungen mit Regierungen verantwortungsvolle und transparente Staatsführung und die Einhaltung der Menschenrechte einfordern, speziell und vehement gegenüber autoritären Regimen. Dies mit der Absicht, dass sich Rechtsstaatlichkeit, Partizipation der Bevölkerung und eine leistungsfähige Verwaltung, die ihrer Bevölkerung den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen sichert, verbessern. 

Weitere entscheidende «Hebel» der Schweiz 

Ein entscheidender «Hebel» der Schweiz, um in ärmeren Ländern Ursachen für Migration zu lindern, liegt darin, dass sie ihre Aussenwirtschaftspolitik nachhaltig und entwicklungsfördernd ausgestaltet. Dazu gehören menschenrechtskonforme Handelsverträge und Importvorschriften für Nahrungs- und Futtermittel zugunsten der Ernährungssicherheit in Entwicklungsländern. Dazu gehört, dass die Schweiz und hier ansässige, international tätige Konzerne nicht auf Kosten von Menschen und Umwelt aufgrund lascher Regeln anderswo profitieren. Dazu gehört eine faire Steuerpolitik, die keine Gewinne aus Ländern abzieht, wo beispielsweise Rohstoffe herkommen. Nur wenn Regierungen auch die Mittel haben, Infrastrukturen bereitzustellen und Dienstleistungen zu erbringen, stärken sie ihre eigenen Länder.  

Ausserdem können nur eine ambitionierte Klimapolitik und eine effektive Umsetzung des Pariser Klimaabkommens dazu beitragen, die Folgen der Erderwärmung und damit auch die klimabedingte Migration einzudämmen. Dies ist auch im Interesse der Schweiz. Sie kann und muss daher beim Klimaschutz und der Minderung ihrer Treibhausgase ebenso wie bei der Finanzierung von Klimaanpassungsmassnahmen und von Loss & Damage in Entwicklungsländern vorangehen. 

Schliesslich muss die Schweiz in den zwei Jahren im UNO-Sicherheitsrat der Bekämpfung der aktuellen Hunger- und Ernährungskrise höchste Priorität einräumen. Die Schweiz kann und muss sich dafür einsetzen, dass der Rat das Thema klimabedingter Migration stärker berücksichtigt. In Bezug auf Konfliktregionen muss sich die Schweiz als Vermittlerin und Friedensstifterin konsequent für den Schutz der Zivilgesellschaft und den Zugang für Humanitäre Hilfe stark machen. Damit die Schweiz in der UNO und der Weltgemeinschaft als glaubwürdige und verlässliche internationale Akteurin wahrgenommen wird, muss sie bei der Umsetzung der Nachhaltigkeits-Agenda 2030 mit gutem Beispiel vorangehen und den «Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration», den die Weltgemeinschaft 2018 verabschiedet hat, endlich unterstützen. Als eines der wenigen Länder ist die Schweiz nach wie vor nicht teil des Migrationspakts, der dazu beiträgt, Migration weltweit fair und menschenwürdig zu gestalten. 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation