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«Die OECD-Mindeststeuer führt nicht zu mehr Steuergerechtigkeit»

Interview mit Steuerexperte Dominik Gross von Alliance Sud
VON: Patrik Berlinger - 05. Mai 2023
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Eigentlich wollte die OECD mit ihrer internationalen Steuerreform Gewinnverschiebungen und Steuervermeidung von grossen Konzernen eindämmen. Doch dazu kommt es nicht: Erstens ist der Satz der neuen Mindeststeuer viel zu tief angesetzt, sodass ärmere Länder weiterhin Steuereinnahmen verlieren werden. Zweitens bringt die Reform keine fairere Verteilung der Gewinnsteuereinnahmen unter den Ländern. Kurz: Die Mindeststeuer ist kein Schritt in Richtung globale Steuergerechtigkeit, erklärt Dominik Gross im Interview* mit Polit-Sichten. Er ist bei Alliance Sud verantwortlich für Steuer- und Finanzpolitik.

Dominik Gross, wie ist die Situation der weltweiten Besteuerung von Firmen?

Internationale Konzerne haben nach wie vor grosse rechtliche Spielräume, um ihre Gewinne nicht dort zu versteuern, wo sie ihre Wertschöpfung erzielen – also wo die Gewinne erarbeitet werden – sondern dort, wo sie dafür am wenigsten Steuern bezahlen. 

Wenn wir den Globalen Süden anschauen, führt das dazu, dass Entwicklungsländern gemäss Studien jährlich mindestens 30 Milliarden Dollar an Steuereinnahmen entgehen. Für diese wirtschaftlich stark benachteiligten Länder sind das enorme Summen, die dann zum Beispiel für Bildung, Gesundheit und Infrastruktur fehlen. 

Was war der ursprüngliche Gedanken der OECD-Steuerreform? 

Der Auslöser für die Reform war die international extrem tiefe Besteuerung der sogenannten GAFA-Konzerne – also der vier grossen Techkonzerne Google (Alphabet), Apple, Facebook (Meta) und Amazon. Die OECD, die G20 und Wirtschaftsvertreter:innen befürchteten, dass Länder vor allem aus der EU, die von diesen Unternehmen um Steuereinnahmen geprellt werden, unilateral Massnahmen ergreifen würden, um diese Konzerne zur Kasse zu bitten. 

Die G20-Länder gaben deshalb der OECD den Auftrag, entsprechende multilaterale Lösungen zu erarbeiten. Zu Beginn zielte die Steuerreform also auf die digitale Wirtschaft im engeren Sinne ab. Im Laufe der Verhandlungen zwischen den beteiligten Staaten wurde die Reform dann auf alle Branchen ausgeweitet. 

Welche Lösung wurde im Rahmen der OECD erzielt? 

Die OECD laboriert an zwei steuerpolitischen Reformsäulen. Die erste Säule des Reformpakets ist derzeit blockiert. Bei der zweiten Säule geht es um eine Gewinnsteuer von mindestens 15 Prozent für grosse Konzerne. Darüber stimmen wir im Juni ab. Grossunternehmen, die 750 Millionen Euro Umsatz machen und heute weniger als 15 Prozent Steuern bezahlen, müssten künftig eine Ergänzungssteuer zahlen. Davon wären lediglich 1% der Schweizer Unternehmen betroffen. Weil diese Reform nicht auf einem multilateralen Abkommen der beteiligten Staaten aufbaut, ist ihre Einführung freiwillig. Setzt die Schweiz die Reform jedoch nicht um und behält die tieferen Gewinnsteuersätze bei, dürften andere Länder den Differenzbetrag, der zum Erreichen der 15 Prozent-Marke fehlt, abschöpfen. Das Geld würde also in die Staatskassen dieser Länder fliessen. 

Mit der Mindeststeuer soll das sogenannte «race to the bottom», in dem sich Länder in den letzten vierzig Jahren mit Gewinnsteuersenkungen überboten, um Konzerne und Investitionen anzuziehen, gebremst werden. Allerdings ist der Mindeststeuersatz mit 15 Prozent sehr tief, eigentlich zu tief angesetzt. Während die meisten Schweizer Kantone heute unter dieser Grenze sind, liegt der globale Durchschnitt bei rund 25 Prozent. Viele Entwicklungsländer weisen Gewinnsteuersätze von 25 bis 35 Prozent auf. 

In Ländern mit hohen Steuersätzen wird deshalb schon über weitere Senkungen der Gewinnsteuer diskutiert, damit sie nicht mehr allzu weit von den 15 Prozent entfernt sind. Dies in der Hoffnung, dass dadurch nicht noch mehr Steuerzahlende wegziehen beziehungsweise Steuersubstrat abfliesst. Um die Attraktivität für internationale Konzerne zu erhöhen, sind – OECD-konform – auch neue sogenannte «tax breaks», also Steuergutschriften zum Beispiel für Investitionen in erneuerbare Energien oder Forschung und Entwicklung ein Thema. Auf der Strecke bleiben ärmere Länder, die sich weder tiefere Steuersätze noch irgendwelche Steuergutschriften für Unternehmen leisten können. 

Was machen die Länder daraus? Und wie will die Schweiz die Reform umsetzen? 

Die Schweiz ist bei der Umsetzung der Reform für einmal vielen anderen Ländern voraus. Nur wenige werden es schaffen, die Reform bis Anfang 2024 in Kraft zu setzen, wie es der OECD-Fahrplan vorsieht. Tritt die Reform in Kraft, sollen Konzerne – neue Schlupflöcher und Steuerausnahmen vorbehalten – Gewinnsteuern im Umfang von mindestens 15 Prozent entrichten. Die Mehreinnahmen aus der Mindeststeuer sollen zu 75% den Kantonen und zu 25% dem Bund zukommen. 

Profitieren werden voraussichtlich hauptsächlich der Pharmastandort Basel-Stadt und das Rohstoffhandelszentrum Zug. Beide besteuern ihre multinationalen Konzerne heute in der Regel mit rund 11 Prozent. Zudem schreibt der neue Verfassungsartikel vor, dass sowohl der Bund wie auch die Kantone diese Mehreinnahmen ausschliesslich für die Standortförderung einsetzen dürfen: Kantone können sich also neue OECD-konforme Steuerabzüge für Konzerne überlegen. Zum Beispiel Abzüge für Unternehmen, die stark auf Forschung und Entwicklung in der Schweiz setzen – also die Pharma in Basel. Oder die Senkung der Einkommenssteuer für gutverdienende natürliche Personen. Das hat Zug bereits in Aussicht gestellt. Nach dem Motto: Wenn wir die Unternehmen mehr belasten müssen, dann entlasten wir halt ihre Manager. 

«Die Schweiz sollte die Regeln für das öffentliche Country-by-Country-Reporting übernehmen, das die EU-Länder derzeit einführen. Dieses verpflichtet Konzerne dazu, offenzulegen, ob sie in anderen Ländern ihren dortigen Aktivitäten entsprechend angemessen Steuern zahlen.»

– Dominik Gross

Aus der Perspektive globaler Steuergerechtigkeit: Was empfehlen Sie für die Abstimmung am 18. Juni? 

Alliance Sud hat die Nein-Parole beschlossen. Grundsätzlich benachteiligt diese Reform die Länder des Globalen Südens aus verschiedenen Gründen: Für sie ist der Mindeststeuersatz viel zu tief. Sie müssten teils ihre Steuern senken, können aber trotzdem nur in seltenen Ausnahmefällen zusätzliches Steuersubstrat anlocken. Gleichzeitig schränkt eine Einführung dieser Mindeststeuer ihren nationalen steuerpolitischen Spielraum ein, weil die OECD-Regeln gewisse Formen der Quellenbesteuerung verbieten beziehungsweise stark einschränken. 

Von der Mindeststeuer profitieren, werden in der Regel nur jene Länder, die Konzerne schon heute mit weniger als 15 Prozent besteuern. Also auch die Schweiz. Der Grund ist: Die Mehreinnahmen durch die nationale Ergänzungssteuer, mit der die Schweiz die Mindeststeuer umsetzen will, werden in der Regel dort bleiben, wo die Konzerne jetzt schon sitzen. Die Schweiz könnte diesbezüglich hier zumindest korrigierend eingreifen, indem sie einen Teil der Mehreinnahmen an wirtschaftlich benachteiligte Produktionsländer von Schweizer Konzernen zurückgibt. Gemäss Berechnungen eines Teams um den französischen Ökonomen und Steuerspezialisten Gabriel Zucman stammen 39% der Schweizer Gewinnsteuereinnahmen nämlich aus Gewinnverschiebungen. 

Ein Nein am 18. Juni würde die Chance auf eine Neuauflage der Reform eröffnen, bei der auch die steuerpolitischen Interessen jener Länder berücksichtigt werden, in denen Schweizer Konzerne einen wesentlichen Teil ihrer Wertschöpfung erzielen. 

Wie könnten wir zu mehr Steuergerechtigkeit – international – gelangen?  

Die OECD erarbeitete in den letzten 15 Jahren zwei grosse Reformen des internationalen Steuerrechts. In der Schweiz führte dies zur Unternehmenssteuerreform III, zur STAF (Steuervorlage und AHV-Finanzierung) – und jetzt zur Mindeststeuer. 

Diese Reformen bringen den Entwicklungsländern aber im besten Fall nichts, obwohl diese die grössten Nachteile aus dem gegenwärtigen System tragen. Wir müssten steuerpolitisch die UNO stärken. Immerhin hat die Generalversammlung im letzten Herbst eine Resolution verabschiedet, die eine UNO-Steuerkonvention zum Ziel hat. Die Schweiz könnte sich bei den Vorarbeiten für den Entwurf aktiv und konstruktiv einbringen. Doch stattdessen erklärt sie die geplante Konvention für unnötig und vergrault damit die Länder des Südens, die diesen Prozess angestossen haben. 

Weiter sollte die Schweiz die Regeln für das sogenannte öffentliche Country-by-Country-Reporting übernehmen, das die EU-Länder und Australien – ein Mekka der Rohstoffindustrie – derzeit einführen. Dieses verpflichtet Konzerne dazu, offenzulegen, ob sie in anderen Ländern ihren dortigen Aktivitäten entsprechend angemessen Steuern zahlen. 

Das Fernziel der globalen Steuergerechtigkeits-Bewegung ist aber eine sogenannte Gesamtkonzernbesteuerung: Damit würden sämtliche weltweiten Gewinne eines Konzerns aus allen Ländern, in denen dieser aktiv ist, zusammengerechnet. Der Gesamtgewinn würde dann gemäss einem bestimmten Verteilschlüssel – Arbeit, Umsatz, Vermögen, etc. in einem Land – auf die Länder verteilt. Damit würden sich annähernd alle Gewinnverschiebungspraktiken im gegenwärtigen System für die Konzerne erübrigen. 

*Das Interview wurde schriftlich geführt.

Alliance Sud, das Schweizer Kompetenzzentrum für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik, hat für die Abstimmung zur OECD-Mindeststeuer vom 18. Juni die Nein-Parole beschlossen. Helvetas selbst hat keine Parole beschlossen, schliesst sich aber den Argumenten von Alliance Sud an. 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation