Rübenroder | © KEYSTONE/Christian Beutler

Zukunftsbild 2050 der Ernährung in der Schweiz

Kleine und zögerliche Schritte hin zu nachhaltiger Agrar- und Ernährungswirtschaft
VON: Patrik Berlinger - 19. August 2022
© KEYSTONE/Christian Beutler

Nachdem die neue Agrarpolitik Anfang 2021 vom Parlament sistiert worden war, bot sich dem Bundesrat die Chance, diese auf eine ganzheitliche und nachhaltige Land- und Ernährungswirtschaft auszuweiten. Die Stossrichtung stimmt: Weniger Futtermittelimporte und Pestizide, dafür mehr Klimaschutz, Biodiversität und Tierwohl. Weniger schädliche Subventionen, dafür sozial gerechte Agrarökologie und nachhaltiger Handel. Doch bei der Umsetzung lässt sich die Schweiz zu viel Zeit – und setzt zu stark auf freiwillige Massnahmen und Selbstverantwortung.

Die neue Agrarpolitik ab dem Jahr 2022, kurz: «AP22+» sollte gemäss bundesrätlichen Vorstellungen sozialer und umweltfreundlicher werden. Mit sozialer Absicherung sollten Bäuerinnen bessergestellt werden. Für Mineraldünger und Futtermittel schlug der Bundesrat einen verbindlichen Absenkpfad vor und verlangte, dass Landwirtschaftsbetriebe künftig weniger synthetische Pestizide einsetzen. Die Umweltauflagen sollten mit den Direktzahlungen verknüpft werden.

Die Bürgerlichen und der Schweizerische Bauernverband waren zwar mit der generellen Stossrichtung einverstanden, gaben aber zu bedenken, dass durch die ökologischen Auflagen viele Mehraufwände und Mindererträge auf die hiesige Landwirtschaft zukämen. Linke Parteien und Umweltverbände begrüssten sowohl die geplanten sozialen Verbesserungen als auch die Umwelt- und Klimaziele. Sie vermissten jedoch griffige Umsetzungsmassnahmen wie Lenkungsabgaben, die bei der Nahrungsmittelherstellung und beim Konsum von Lebensmitteln für mehr Kostenwahrheit und Nachhaltigkeit gesorgt hätten.

Abfuhr des Parlaments bremst ökologische Verbesserungen

Die Skepsis bei Bürgerlichen und Bauern überwog: In der Wintersession 2020, nach einer langen Debatte, erteilte der Ständerat der neuen Agrarpolitik eine Abfuhr. Vergeblich verwies der zuständige Bundesrat Guy Parmelin, er selbst Weinbauer, auf die sozialen und ökologischen Massnahmen, die bei einer Sistierung des Geschäfts nicht umgesetzt werden könnten. Der Rat verlangte schliesslich Nachbesserungen vom Bundesrat – u.a. mit Vorschlägen, wie der Selbstversorgungsgrad aufrechterhalten und der administrative Aufwand für Landwirtschaftsbetriebe verringert werden kann, und wie effiziente Rahmenbedingungen für die Land- und Ernährungswirtschaft aussehen könnten.

Auch der Nationalrat entschied, die AP22+ vorerst auf Eis zu legen. Vergeblich warnte die Sozialdemokratische Partei davor, damit die Ökologisierung der Landwirtschaft um Jahre hinauszuzögern. Immerhin: Mit dem geforderten Bericht erhielt der Bundesrat die Chance aufzuzeigen, wie die künftige Agrarpolitik grundsätzlich und umfassend in Richtung gesunde und erschwingliche Ernährung sowie sozialverträgliche und ökologische Lebensmittelproduktion verändert werden kann.

Schweiz steht vor ernsthaften Herausforderungen

Dass Reformbedarf besteht, ist unbestritten: Daten des Bundesamtes für Umwelt (Bafu) zeigen, dass die Landwirtschaft zu viel Gülle austrägt, und die Werte für Ammoniak, das für Pflanzen und Tiere schädlich ist, im gesamten Mittelland kritisch hoch sind. Das ETH-Wasserforschungsinstitut Eawag warnt vor zu hohem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln; Pestizidrückstände würden die zulässigen Grenzwerte stark übersteigen und Grundwasser und Flüsse belasten. Die Eidgenössische Fachkommission für Lufthygiene kritisiert mangelhafte Vorgaben zur Emissionsminderung, worunter Wälder und die Artenvielfalt auf Naturwiesen und Mooren litten. Laut Bafu ist die heutige Landwirtschaft mitverantwortlich dafür, dass über 40 Prozent der Tierarten in der Schweiz bedroht sind, darunter Insekten, Weichtiere, Fische und Vögel.

In der Schweiz trägt die Landwirtschaft 15 Prozent zu den inländischen Gesamtemissionen bei, wobei weitere Emissionen anfallen bei der Verarbeitung, durch Transporte und Lagerung, beim Konsum und der Entsorgung von Lebensmitteln. Hinzu kommt: Die Hälfte der in der Schweiz konsumierten Nahrungsmittel wird importiert. Zudem stammt 55 Prozent des Kraftfutters, das in der Schweiz für die Nutztierhaltung verwendet wird, ebenfalls aus dem Ausland – Tendenz steigend. Allein in den letzten 20 Jahren hat sich die Einfuhr von Futtermitteln beinahe verdoppelt. Es wird in Form von Agrarrohstoffen wie Weizen und Soja in die Schweiz eingeführt, wobei auf dem dafür benötigten Land in vielen Fällen Nahrungsmittel für die Menschen vor Ort angebaut werden könnten.

Weltweit wird für den Anbau von Tierfutter immer mehr Ackerland gebraucht, häufig in Entwicklungsländern. Dafür werden humusreiche Feuchtgebiete und Moore trockengelegt, Grünland wird in Ackerland umgewandelt und Wälder werden durch Brandrodung urbar gemacht. Der Verlust von Humus und fruchtbaren Böden ist laut der Uno nicht nur ein riesiges Problem für die Welternährung, sondern auch gravierend für das Weltklima: Monokulturen und industrielle Viehhaltung, Dünger und Pestizide, die Lebensmittelverarbeitung, die Verpackung und der Transport, also das globale Ernährungssystem, sind für 21 bis 37 Prozent der globalen Klima-Emissionen verantwortlich.

Schöne Vision, zu langer Zeithorizont

Mit all diesen Informationen auf dem Tisch erarbeitete der Bundesrat die vom Parlament geforderte Strategie für die Landwirtschaft der Zukunft und legte sie im Juni vor. Die «Zukünftige Ausrichtung der Agrarpolitik» befasst sich mit der gesamten Wertschöpfungskette, von der Produktion über die Verarbeitung bis hin zu Konsum und Entsorgung von Lebensmitteln. Die Strategie macht deutlich: Der Handlungsbedarf für die Vision 2050 «Ernährungssicherheit durch Nachhaltigkeit von der Produktion bis zum Konsum» ist riesig. Für die Transformation hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem schlägt der Bundesrat vier Stossrichtungen vor: Erstens soll die Land- und Ernährungswirtschaft Gewässer und Böden schonend nutzen, der Erderwärmung vorausschauend begegnen und die Lieferketten stabil halten.

Zweitens soll die Lebensmittelproduktion klima-, umwelt- und tierfreundlich sein. Landwirte sollen mehr auf erneuerbare Energien setzen, Pflanzenschutzmittel sorgsam einsetzen und darauf achten, dass weniger Schadstoffe in die Umwelt gelangen. Drittens soll die nachhaltige Wertschöpfung gestärkt werden mit einfacheren agrarpolitischen Instrumenten und weniger administrativem Aufwand. Konsumentinnen und Konsumenten sollen viertens erfahren, wie die Lebensmittel produziert werden und welche Auswirkung sie auf Klima oder Tierwohl haben.

Der Bundesrat möchte die Strategie in drei Etappen umsetzen: Bereits von Bundesrat und Parlament beschlossen sind Massnahmen zur Reduktion von Nährstoffverlusten und der Risiken beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln (erste Etappe). Ergänzend zählt der Bundesrat auf freiwillige Massnahmen, um schädliche Auswirkungen der konventionellen Landwirtschaft auf Gewässer und Ökosysteme sowie auf das Klima zu minimieren. Als zweiter Schritt empfiehlt der Bundesrat dem Parlament, die AP22+ grundsätzlich umzusetzen, allerdings in einer abgeschwächten Version. Tatsächlich tiefgreifende Anpassungen für eine nachhaltige Land- und Ernährungswirtschaft schlägt der Bundesrat erst nach 2030 vor (dritte Etappe).

Die Ambitionen müssen sich an der Nachhaltigkeitsstrategie bis 2030 ausrichten

Die vier vorgeschlagenen Stossrichtungen sind allesamt richtig und wichtig. Ebenfalls ist zu begrüssen, dass mit der parlamentarischen Initiative 19.475 (erste Etappe) dafür gesorgt wird, dass die Lebensmittelproduktion in der Schweiz umwelt- und tierfreundlicher werden soll. Absolut ungenügend ist hingegen, dass die relevanten Schritte der dritten Etappe hin zu einem ganzheitlichen, nachhaltigen Ernährungssystem erst ab 2030 eingeleitet werden sollen. Geschweige denn, dass hierfür die vom Bundesrat vorgesehenen prioritären Massnahmen «mit geringer und mittlerer Regulierungstiefe» – also freiwillige Zielvereinbarungen und Selbstverantwortung der Branchen – kaum ausreichen werden.

Viel mehr braucht es klare Vorgaben, Mindestanforderungen und Absenkpfade sowie transparente Produktinformationen und weniger schädliche Subventionen, wie sie etwa zur Förderung des Fleischkonsums fliessen. Ebenfalls zentral ist Kostenwahrheit: Negative Effekte wie Gesundheitskosten und Umweltschäden zulasten der Allgemeinheit sowie Treibhausgasausstoss und die entsprechenden Auswirkungen aufs Klima müssen in die Preise eingerechnet werden (Internalisierung externer Kosten).

Unbedingt sollten bereits die kommenden Sessionen im Parlament dafür genützt werden, um die Schweiz fit zu machen für 2050. Dies wäre im Einklang mit dem ersten von drei Schwerpunktthemen der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030, «Produktion und Konsum nachhaltig» auszurichten. Gemäss dieser Strategie will der Bundesrat bereits über die nächsten acht Jahre (bis 2030) die notwendige «Transformation hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen im In- und Ausland vorantreiben», was auch bedeutet, den Handel mit ärmeren Ländern tatsächlich fair und nachhaltig zu gestalten und agrarökologische Methoden, die Kleinbauern stärken und die Vielfalt fördern, hierzulande und in Entwicklungsländern, voranzubringen.

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation