Ethiopian migrant | © Keystone/AP/Nirman EL-Mofty

UNO-Migrationspakt in der Schweizer Endlosschleife

Die Schweiz bleibt im migrationspolitischen Abseits
VON: Geert van Dok - 21. Oktober 2022
© Keystone/AP/Nirman EL-Mofty

Während die UNO und die meisten Mitgliedstaaten versuchen, auf Grundlage des Migrationspakts den Herausforderungen in der globalen Migration zu begegnen, befindet sich dieser hierzulande seit vier Jahren in der politischen Endlosschleife. Das Parlament verweigert dem Bundesrat die Zustimmung zum Pakt, solange es sein Mitwirkungsrecht bei Soft Law nicht geklärt hat. Auf einen entsprechenden Kommissionsbericht wartet Bundesbern seit über zwei Jahren. Derweilen zeitigt die internationale Umsetzung des Migrationspakts Fortschritte, wie ein UN-Forum unlängst verdeutlichte.

Wieder einmal stehen die Zeichen in der Migrationsdiskussion auf Sturm. Gemäss Frontex versuchten dieses Jahr bis Ende September 230'000 Menschen irregulär in die EU zu gelangen. Über die Balkanroute, die griechischen Inseln oder das Mittelmeer. Europa wappnet sich gegen die irreguläre Migration, wie am Second Sarajevo Migration Dialogue am 20. September und jüngst am Treffen der Schengen-Innenminister erneut deutlich wurde. Dabei hielt Bundesrätin Karin Keller-Sutter fest, die Schweiz habe ein «Interesse daran, dass diese Migration überhaupt nicht erfolgt» und erwarte – mit Blick auf die Visumspolitik der Balkanstaaten – strengere Regeln zur Eindämmung der irregulären Migration. Gleichzeitig sind Parteien mit migrationsfeindlichen Programmen vielerorts auf dem Vormarsch, wie unlängst in Schweden. Vor diesem Hintergrund sind politische Anstrengungen für eine sichere, geordnete und reguläre Migration – unter Wahrung der jeweiligen nationalen Souveränität – dringender denn je.

Krieg und Vertreibung

In Europa stossen viele Auffangstrukturen an ihre Grenzen, auch wegen der grossen Fluchtbewegungen als Folge des Kriegs in der Ukraine. Seit Kriegsbeginn fanden laut Schätzung des UNHCR etwa 7,7 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge in Europa Aufnahme, zwei Drittel davon in Anrainerstaaten, mehrheitlich in Russland (2,8 Mio.) und Polen (1,4 Mio.). Gut 4,4 Millionen Personen sind in europäischen temporären Schutzprogrammen untergekommen (Stand: 11.10.2022), darunter auch rund 67'000 Personen mit Schutzstatus S in der Schweiz.

Bereits Ende 2021, also noch vor Beginn des Kriegs in der Ukraine, lag die Gesamtzahl Flüchtlinge und Vertriebener unter UNHCR-Mandat bei 89 Millionen, davon 53 Millionen Binnenvertriebene, also im eigenen Land auf der Flucht vor bewaffneten Konflikten, Gewalt oder Menschenrechtsverletzungen. Seither kamen laut Schätzung der IOM (International Organization for Migration) alleine in der Ukraine sechs Millionen Binnenvertriebene dazu. Dabei stützt das UNHCR seine Arbeit seit 2018 auf den von der UN-Generalversammlung verabschiedeten «Globalen Pakt für Flüchtlinge» ab. Dennoch fehlen dem UNHCR bis Ende 2022 rund 1,15 Milliarden US-Dollar, vor allem für seine Arbeit in den armen Ländern des Globalen Südens.

Herausforderungen in der globalen Migration

Während die europäischen Staaten für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zurecht Aufnahme- und Schutzprogramme schaffen, bleibt ihr Engagement hinsichtlich der Herausforderungen der globalen Migration eher überschaubar. Dabei leben viele der weltweit rund 280 Millionen Migrantinnen und Migranten, speziell jene in Asien (31%) und Afrika (9%), in prekären Situationen unter Missachtung grundlegender Menschenrechte. Wie wichtig und dringend politische Massnahmen sind, verdeutlichen beispielsweise die Zustände und Menschenrechtsverletzungen in den Rohingya-Flüchtlingslagern, auf den Migrationsrouten in Afrika und nach Europa, bei der Arbeitsmigration in die Golfstaaten und anderswo, an den Grenzen nach Nordamerika oder in Afghanistan.

Gleiches gilt für die umwelt- und klimabedingte Migration. Die Platform on Disaster Displacement fordert daher verstärkte Massnahmen zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit vor Ort, (grenzüberschreitende) Migrationsmöglichkeiten, Umsiedlung aus gefährdeten Zonen und zudem den Schutz intern Vertriebener: Das International Displacement Monitoring Centre (IDMC) zählte Ende 2021 sechs Millionen intern Vertriebene als Folge von Katastrophen, die Betroffenen in Pakistan und jüngst in Westafrika nicht mitgezählt.

Solche Missstände in der globalen Migration veranlassten die UN-Mitgliedsstaaten im September 2016, den Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration, kurz Migrationspakt, ausarbeiten zu lassen. Nach einem zweijährigen Diskussionsprozess lag der Entwurf vor: Der Migrationspakt soll die Migration sicherer machen, menschenwürdige Transit-, Arbeits- und Integrationsbedingungen festlegen und Status- und Rückkehrfragen regeln. Menschen sollen dank weitgehender Bewegungsfreiheit in (regionalen) Wirtschaftsräumen zur nachhaltigen Entwicklung beitragen können. Gleichzeitig bekräftigt der Pakt aber ausdrücklich die nationale Souveränität der Staaten in der Migrationspolitik.

Fortschritte beim UNO-Migrationspakt

Im Dezember 2018 wurde der Migrationspakt von der UNO-Generalversammlung mit 152 gegen 5 Stimmen angenommen. Die Schweiz enthielt sich zusammen mit Australien, Österreich, Italien und acht weiteren Ländern der Stimme. Gleichzeitig legte die Generalversammlung fest, ab 2022 alle vier Jahre ein International Migration Review Forum (IMRF) durchzuführen, um die Umsetzung des Migrationspakts zu überprüfen, die Fortschritte zu bewerten und über die Herausforderungen zu beraten. Im Juli 2019 beauftragte sie die IOM als Koordinatorin des United Nations Network on Migration mit der Durchführung des IMRF. So fand im Mai dieses Jahres in New York an vier Tagen das erste IMRF statt, an dem UN-Mitgliedstaaten, UN-Organisationen und unterschiedlichste Interessengruppen teilnahmen.

Die Diskussionen am IMRF machten deutlich, dass die meisten Staaten bei der Gestaltung und Steuerung der internationalen Migration deutlich vorangekommen sind. Die von der Generalversammlung am 7. Juni ohne Abstimmung («without a vote») gutgeheissene «Fortschrittserklärung» des IMRF liess keinen Zweifel über die Dringlichkeit des Migrationspakts und die Entschlossenheit der meisten UN-Mitglieder aufkommen. Einzelne Staaten hingegen betonten, dass sie der Schlusserklärung wie schon 2018 dem Migrationspakt selbst (teilweise) nicht zustimmen würden.

Die Schweiz beteiligte sich schon gar nicht an den IMRF-Diskussionen. Denn schliesslich hatte das Parlament dem Bundesrat 2018 im Vorfeld der UN-Abstimmung klar gemacht, dass eine Zustimmung zum Migrationspakt ohne grünes Licht des Parlaments nicht in Frage käme. Dabei hatte der Bundesrat stets betont, der Pakt mit seinen 23 Zielsetzungen entspreche den Interessen der Schweiz im Migrationsbereich und die Empfehlungen würden in den angesprochenen Politikbereichen bereits umgesetzt.

Das hatte rechtsbürgerliche Kreise im Parlament nicht daran gehindert, Ängste zu schüren und das Schreckensszenario einer unkontrollierten Migration in die Schweiz heraufzubeschwören, obwohl der Pakt ein Recht auf Einwanderung ausdrücklich ausschliesst. Beide Räte beauftragten den Bundesrat, den Pakt in Form eines einfachen Bundesbeschlusses dem Parlament zur Zustimmung vorzulegen. Es dauerte über zwei Jahre, bis der Bundesrat im Februar 2021 seine Botschaft mit dem Bundesbeschluss vorlegte. Darin beantragte er erneut die Zustimmung zum Pakt. Er zeigt sich nach wie vor überzeugt, dass der Pakt mit der Schweizer Rechtsordnung und Praxis kompatibel und «im Interesse der Schweiz» sei. Mit der Zustimmung entstünden für die Schweiz keine politischen oder finanziellen Verpflichtungen oder Aufgaben. Doch erneut scheiterte der Bundesrat im Parlament.

Das lange Warten auf den Soft Law-Bericht

Im Juni und September 2021 sistierten die Eidgenössischen Räte das Geschäft. Man wolle zunächst den Abschlussbericht der Subkommission Soft Law abwarten, die im Januar 2020 mit dem Auftrag eingesetzt worden war zu prüfen, «wie die parlamentarischen Mitwirkungsrechte in diesem Bereich gestärkt werden könnten» und ob diesbezüglich gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehe. Soft Law umfasst rechtlich nicht verbindliche Prinzipien, Vereinbarungen oder Agenden, die aber eine gewisse normative Kraft haben. Sie werden oft in internationalen Organisationen ausgearbeitet und gewinnen als Gestaltungsinstrumente in den internationalen Beziehungen zunehmend an Bedeutung, wie der Bundesrat 2019 in einem Bericht festhielt. Beispiele sind die Agenda 2030 mit den 17 SDGs, die Empfehlungen des Global Forum on Transparency, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und eben der Globale Pakt für Flüchtlinge und der Migrationspakt.

Auf den Bericht der Subkommission wartet das Parlament bis heute, obwohl schon im Juni 2021 besagte Subkommission laut dem Sprecher der APK des Ständerats «auf gutem Weg ist, in der ersten Hälfte 2022 einen Lösungsansatz präsentieren zu können». Immerhin liegen seit Ende 2021 zur «Mitwirkung des Parlaments im Bereich von Soft Law» je ein Evaluationsbericht der Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) und ein Rechtsgutachten vor, das die PVK in Auftrag gegeben hatte. Im März 2022 lehnte der Nationalrat zudem die Parlamentarische Initiative «Soft Law durch die Bundesversammlung genehmigen lassen» der SVP deutlich ab. Es würde also nicht erstaunen, wenn am Schluss trotz parlamentarischem Säbelrasseln alles mehr oder weniger beim Alten bliebe.

Auch wenn es zurzeit vielleicht drängendere Krisen gibt, die die politische Schweiz beschäftigen, wäre die Subkommission Soft Law wohl gut beraten, ihren Bericht möglichst rasch vorzulegen. Dann könnte das Parlament den Migrationspakt in der Wintersession 2022 behandeln – und dem Bundesrat hoffentlich grünes Licht für die Zustimmung zum Migrationspakt geben. Dieser könnte sich dann mit Verspätung und gemeinsam mit der UN-Staatengemeinschaft an den Umsetzungsmassnahmen beteiligen, wie sie am IMRF diskutiert wurden und weiter vorangetrieben werden – und sich dann als drittes europäisches Land nebst Portugal und Luxemburg den Champion Countries anschliessen, die bei der Umsetzung des Migrationspakts vorangehen und dabei gute Erfahrungen machen. Das würde der Schweiz gerade auch als künftiges nicht-ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats gut anstehen.