Agenda 2030: Die Schweiz ist in Verzug

Nachhaltiger Wandel muss entschlossener vorangetrieben werden
VON: Patrik Berlinger, Eva Schmassmann - 22. Juli 2022

Bei Halbzeit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ist die Schweiz längst nicht dort, wo sie sein sollte. Das zeigt der Fortschrittsbericht des Bundesrates, den Aussenminister Ignazio Cassis am 12. Juli auf der UNO-Weltbühne präsentierte. Die Schweiz muss beim Wechsel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft rasch und kräftig nachbessern.

Beflügelt vom Erfolg der Millenniumsziele verabschiedete die UNO-Generalversammlung vor bald sieben Jahren die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und rief zur «Transformation unserer Welt» auf. Kernstück sind die Sustainable Development Goals (SDGs) – 17 Ziele, die bis 2030 weltweit erreicht werden sollen. Alle UNO-Mitgliedstaaten sind aufgefordert, die drängenden Herausforderungen der Welt gemeinsam zu lösen. Die Agenda 2030 steht für eine sozial gerechte und friedliche Welt, in der niemand Hunger leiden muss und jeder Mensch in Würde leben kann, in der die Ökosysteme an Land und im Wasser geschützt sind und in der Konsum und Produktion die planetaren Grenzen nicht überschreiten.

Bei der Umsetzung der Agenda im eigenen Land hat der Bundesrat keine Eile. Erst vor einem Jahr, als die alte Strategie längst ausgelaufen war, legte er seine Strategie Nachhaltige Entwicklung (SNE 2030) vor. Diese dient der Schweiz seither als zentraler Leitfaden für die Erreichung der SDGs im Inland. Mit ihr will die Schweiz ihre zahlreichen Aktivitäten «auf eine nachhaltige Entwicklung ausrichten» und die Agenda «in ihrer Gesamtheit» umsetzen. Schwerpunkte setzt die Strategie bei «nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion», bei «Klima, Energie und Biodiversität» und bei «Chancengleichheit und sozialem Zusammenhalt». Für den Bundesrat sind dies die «Themenfelder, in denen auf Bundesebene ein besonderer Handlungs- und Abstimmungsbedarf zwischen den Politikbereichen besteht». Um die Ziele zu erreichen, setzt er vornehmlich auf Sensibilisierung und Information.

Ein Weckruf und ein Länderbericht

Weil die Umsetzung der SDGs wegen der Corona-Krise weltweit einen herben Dämpfer erlitt und die angestrebte «Transformation der Welt» zu scheitern droht – nicht zuletzt, weil wohlhabende Länder wie die Schweiz zu wenig Fortschritte erzielen –, forderte die UNO-Generalversammlung im September 2020 ihren Generalsekretär António Guterres auf, Empfehlungen vorzulegen, «wie wir unsere gemeinsame Agenda voranbringen und den aktuellen wie künftigen Herausforderungen begegnen können».

Gefragt war ein Weckruf, um der Agenda 2030 neues Leben einzuhauchen. Die im September 2021 vorgelegte «Our Common Agenda» propagiert einen inklusiven, effektiven und vernetzten «Multilateralismus mit Biss» mit einer starken UNO, anstelle der nationalen Bestrebungen mancher Länder. «Business as usual» sei keine Option, betonte António Guterres, denn «unsere Welt steuert auf ein neues Abnormal zu: chaotischer, unsicherer und gefährlicher für alle». Angesichts der verheerenden Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf den Globalen Süden könnte er mit seiner Einschätzung recht erhalten.

Knapp ein Jahr nach diesem Weckruf legte Bundespräsident Ignazio Cassis am 12. Juli 2022 vor der UNO-Staatengemeinschaft am Hochrangigen Politischen Forum für Nachhaltige Entwicklung (HLPF) in New York per Video-Botschaft den zweiten Fortschrittsbericht der Schweiz nach 2018 vor. Darin gibt sich der Bundesrat zuversichtlich: Zwar gebe es auch in der Schweiz noch einige Herausforderungen zu bewältigen, insgesamt sei man bei der Umsetzung der Agenda 2030 aber auf Kurs, wenn auch langsam: «Die Richtung stimmt, nur das Tempo nicht».

Leben auf Kosten der Welt – wie weiter?

Das sieht die Plattform Agenda 2030, ein Zusammenschluss von über 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen inklusive Helvetas, anders: Sie begrüsst zwar, dass der Bundesrat der Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung künftig mehr Beachtung schenken will. Dies ändere aber wenig daran, dass die Schweiz nach wie vor zu stark «auf Kosten der Welt» lebe, heisst es in ihrer Stellungnahme. Die Plattform weist auf ressourcenintensive Produktions- und Konsummuster hin, auf umweltschädliche Futtermittelimporte und Pestizidausfuhren, lückenhafte Geldwäschereibekämpfung und finanzpolitische Verschwiegenheit, auf intransparente Rohstoffgeschäfte und Waffenexporte in unsichere Weltregionen. Die zahlreichen negativen Spillovers der Schweiz schadeten den internationalen Bestrebungen zur Erreichung der SDGs. So steht die Schweiz im Spillover Ranking des Sustainable Development Report 2022 auf Rang 157 von 163 bewerteten Ländern.

Vertreterinnen der Plattform haben ihren Bericht «Weiter wie bisher auf Kosten der Welt? Halbzeitkommentar zur Umsetzung der Agenda 2030 in der Schweiz» am 12. Juli am HPLF dem offiziellen Länderbericht der Schweiz gegenübergestellt. Darin ruft die Plattform zu geeintem Handeln auf: «Wissenschaft, Verantwortliche aus Wirtschaft und Politik, Zivilgesellschaft – wir müssen unser Handeln gemeinsam auf die Agenda 2030 ausrichten. Wir dürfen niemanden zurücklassen. Indem wir alle mitnehmen und anhören, finden wir Wege, um die Zielkonflikte aufzulösen. Mit geeinten Kräften erreichen wir die Kohärenz und den Zusammenhalt, um die notwendige Transformation voranzubringen. [...] Damit nachfolgende Generationen bestmöglich leben können.»

Die Plattform schaut insbesondere auch über die Landesgrenzen und stellt Fragen zur globalen Gerechtigkeit ins Zentrum. Während zum Beispiel der Bundesrat in seinem Fortschrittsbericht lediglich die Trinkwasserqualität im Inland kommentiert, verweist der Bericht der Plattform auf den immensen Wasserfussabdruck der Schweiz im Ausland – notabene gut dokumentiert in einem Bericht des Bundesamts für Umwelt. Um das globale Ziel eines sicheren Zugangs zu sauberem Trinkwasser zu erreichen, muss die Schweiz entsprechend dazu beitragen, dass der Wasserverbrauch in der Produktion ihrer Konsumgüter in wasserknappen Regionen markant sinkt.

«Business as usual» ist keine Option

Der Bundesrat wird nun auf Grundlage seines Fortschrittsberichts seine Strategie SNE 2030 evaluieren und für ihre Umsetzung einen neuen Aktionsplan erarbeiten. Dabei täte er gut daran, seine Bemühungen zu intensivieren und die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Akteuren zu verstärken, insbesondere mit der Zivilgesellschaft. Die Plattform erwartet vom Bundesrat, dass er mit diesem Aktionsplan sämtliche Politikfelder an den Zielen und Ambitionen der Agenda 2030 ausrichtet. Bund, Kantone und Gemeinden müssen klare Anreize, Regeln und Mindestanforderungen setzen, zum Beispiel um das Ernährungssystem in eine emissionsarme, tierfreundliche und weltverträgliche Richtung zu steuern, oder um den Finanzmarkt zu verpflichten, vermehrt Investitionen zum Schutz des Klimas und der Menschenrechte zu tätigen. Nachhaltigkeit kann nicht einfach an die Bevölkerung und/oder einzelne Wirtschaftsunternehmen delegiert werden, sondern ist in erster Linie eine politische Aufgabe.

Auch kann der Bundesrat nicht weiter nur auf Information und Sensibilisierung der Bevölkerung setzen, um nachhaltiges Verhalten zu fördern. Appelle und Freiwilligkeit sind nicht zielführend. Das zeigt zum Beispiel der Umgang mit der Klimaveränderung: Obwohl der Mehrheit der Bevölkerung seit Jahren klar ist, dass dabei auch das eigene Verhalten eine wichtige Rolle spielt, ändern zu wenig Menschen ihr Verhalten. Freiwilligkeit genügt auch nicht bei Unternehmen wie Banken, Rohstofffirmen oder Goldraffinerien, die bei ihrer Tätigkeit die Menschenrechte verletzen und/oder die Umwelt schädigen. Und auch beim wichtigen Ziel, die Kreislaufwirtschaft zu fördern, sollte der Bundesrat dringend «regulatorische und nicht regulatorische Ansätze zur Ressourcenschonung und zur Förderung von Ökodesign, Reparieren, Teilen und Wiederverwendung» einführen, wie er es in der Strategie in Aussicht stellte.

Zusätzlich soll er sich im Parlament dafür stark machen, dass die Schweiz das in der Agenda 2030 verankerte UNO-Ziel von 0,7 Prozent des BNE für die öffentliche Entwicklungshilfe (SDG 17.2) als langfristiges Ziel anerkennt. Denn trotz der multiplen Krisen (Klimaveränderung, Bürgerkriege, Corona-Pandemie, Ukrainekrieg und Ernährungsschocks im Globalen Süden) ist die Schweiz weit davon entfernt: 2021 stieg der Schweizer Beitrag von 0,48 auf 0,51 Prozent. Ohne die Anrechnung von Asylkosten in der Schweiz selbst waren es lediglich 0,46 Prozent. Und die überschüssigen COVID-19-Impfstoffe und medizinischen Hilfsgüter, die die Schweiz 2021 an Entwicklungsländer gespendet hatte, hatte man auch noch gerade mitgerechnet.

Und schliesslich muss der Bund Massnahmen ergreifen, die Agenda 2030 in der Bevölkerung bekannter zu machen und deren Interesse an der nachhaltigen Entwicklung zu wecken. Denn heute kennen in der Schweiz 9 von 10 Personen die SDGs gemäss einer Umfrage der ETH kaum oder gar nicht. Das muss sich dringend ändern.

 

* Eva Schmassmann ist Geschäftsführerin der zivilgesellschaftlichen Plattform Agenda 2030.

 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation
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