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Keine Eile bei der nachhaltigen Entwicklung

Die neue Strategie des Bundesrats lässt zu wünschen übrig
VON: Geert van Dok, Eva Schmassmann - 09. Juli 2021
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Die Schweiz hat sich eine neue Strategie für nachhaltige Entwicklung bis 2030 gegeben. Der Bundesrat preist sie als Hebel zur Umsetzung der UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung an. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Sie setzt vor allem auf Freiwilligkeit, weist grosse Lücken auf und umschifft heisse Eisen, wie etwa die Regelung des Finanzmarkts. Damit wird die Schweiz ihrer Verantwortung nicht gerecht.

2019 warnte die Klimaforschung, die «Kipppunkte» in unserem planetaren System könnten schneller erreicht sein, als bislang gedacht. Sind sie einmal überschritten, lösen sie Kettenreaktionen aus, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Das schnelle Abschmelzen der Gletscher auf Grönland wird wichtige Atlantik-Meeresströmungen stören, was Folgen für die Regenzeit in Westafrika und die Feuchtigkeit des Amazonas-Beckens mit seinen Regenwäldern haben kann. Es handle sich um einen planetaren Notstand und verlange von allen Regierungen energische und vor allem rasche Gegenmassnahmen, betonten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Bedächtigkeit und schöne Worte

Aber in der Schweiz mahlen die politischen Mühlen alles andere als energisch und rasch. Gesetze, Verordnungen und Strategien werden entworfen, konsultiert, verhandelt und gegebenenfalls wird dann noch über sie abgestimmt. Diese Gründlichkeit hat in der Regel grosse Vorteile, verhindert aber schnelles Handeln, das nötig wäre, wenn globale Herausforderungen angegangen und ein wirkungsvoller Beitrag geleistet werden müsste.

Bedächtig war auch die Erarbeitung der Strategie für nachhaltige Entwicklung. Da liess der Bundesrat die alte Strategie 2019 auslaufen, ohne eine neue zu präsentieren. Erst ein Jahr später, Ende 2020, wurde dann endlich der Entwurf einer neuen «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» (SNE 2030) in die Vernehmlassung geschickt. Dabei «hatte der Berg eine Maus geboren», wie die Plattform Agenda 2030 konstatierte. Nicht zuletzt deshalb war der Rücklauf in der Vernehmlassung enorm: Mehr als 230 Akteure – Kantone, politische Parteien, NGOs und weitere interessierte Kreise – beteiligten sich mit unzähligen kritischen Rückmeldungen und substanziellen Vorschlägen.

Am 23. Juni 2021 veröffentlichte der Bundesrat dann (endlich) die überarbeitete Fassung der SNE 2030, zusammen mit einem Aktionsplan für die Jahre 2021 bis 2023. Die Strategie soll dem Bundesrat als Hauptinstrument für die Erreichung der Ziele der Agenda 2030 (SDGs) dienen, die zahlreichen sektoriellen Aktivitäten der Schweiz «auf eine nachhaltige Entwicklung ausrichten» und die Agenda «in ihrer Gesamtheit» umsetzen. Mit ihren 17 SDGs steht die Agenda 2030 für eine friedliche Welt, in der niemand Hunger leiden muss, in der die Ökosysteme an Land und im Wasser geschützt sind und in der Konsum und Produktion die planetaren Grenzen nicht überschreiten. Diesem Anspruch wird die Strategie, die immerhin bis 2030 gelten soll, aller schönen Worte zum Trotz, in keiner Weise gerecht.

Inhaltliche Lücken und freiwillige Appelle

Schwerpunkte setzt die SNE 2030 bei «nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion», bei «Klima, Energie und Biodiversität» und bei «Chancengleichheit und sozialem Zusammenhalt». Dies sind für den Bundesrat «jene Themenfelder, in denen auf Bundesebene ein besonderer Handlungs- und Abstimmungsbedarf zwischen den Politikbereichen besteht». Ausgeblendet werden damit zahlreiche SDGs, obwohl auch sie für die Schweiz relevant sind: Beispielsweise SDG 16, das friedliche und inklusive Gesellschaften fördern will, wozu unter anderem auch die Regulierung unlauterer Finanzflüsse oder die Einschränkung von Waffenexporten gehören. Oder SDG 14, das dem Erhalt und der nachhaltigen Nutzung maritimer Ökosysteme gewidmet ist. Im Binnenland Schweiz werden aber rund 75'000 Tonnen Fisch und Meeresfrüchte verzehrt, wovon 97 Prozent importiert werden. Zudem tragen die Flüsse zur Meeresverschmutzung bei, wie der Rhein, der jährlich über 40'000 Tonnen Stickstoff aus der Schweiz in die Nordsee entsorgt. Wohl wird bei den Schwerpunkten auf verschiedene SDGs querverwiesen, aber für diese werden keine Ziele festgelegt. Sie werden einfach mitgedacht.

Unverständlich ist, dass die Strategie vor allem auf Information und Sensibilisierung der Konsumentinnen und Konsumenten als Hebel für nachhaltiges Verhalten setzt. Dass Appelle und Freiwilligkeit aber nicht zielführend sind, zeigt der Umgang mit dem Klimawandel: Der Bevölkerung ist seit vielen Jahren bekannt, dass individuelles Verhalten eine wichtige Rolle bei der Klimaerwärmung spielt. Dennoch ändern die meisten Menschen ihr Verhalten kaum, denn ihr eigenes Handeln wird von Status und Werten, Preis, Bequemlichkeit oder Werbung beeinflusst. Eine Privatisierung der Nachhaltigkeit via verantwortungsvollen Konsum überfordert die Einzelne oder den Einzelnen wegen der Intransparenz bei den Produktionsbedingungen und den erzielten Gewinnmargen und ist zum Scheitern verurteilt. Vielmehr sind Bund, Kantone und Gemeinden gefordert, Regeln und Mindestanforderungen – und damit den Rahmen für nachhaltige Entwicklung – zu setzen. Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe des politischen Systems.

Freiwilligkeit reicht im Übrigen auch nicht aus bei Unternehmen, die umweltschädigend und/oder menschenrechtswidrig wirtschaften. Immerhin aber öffnet der Bundesrat hier zur Förderung der Kreislaufwirtschaft die Türe einen Spalt breit in Richtung Regulierung. Zwar setzt er weiterhin auf die Eigeninitiative der Wirtschaft, er will aber falls nötig «regulatorische und nicht regulatorische Ansätze zur Ressourcenschonung und zur Förderung von Ökodesign, Reparieren, Teilen und Wiederverwendung» prüfen. Hier hatte die Kritik aus der Vernehmlassung eine minimale Wirkung.

Finanzflüsse und öffentliche Beschaffung

Die Finanzindustrie ist einer der wichtigsten Treiber von nicht-nachhaltiger Entwicklung – und trotzdem vermeidet es der Bundesrat, verbindliche Vorgaben zu machen. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) hält in seinem jüngsten Bericht zum Klimawandel in der Schweiz fest, dass «der Schweizer Finanzmarkt nicht nur signifikant in die Erdöl- und Kohleförderung involviert ist, sondern sogar deren weiteren Ausbau mitfinanziert. Dies entspricht nicht der Zielsetzung aus dem Übereinkommen von Paris, die Finanzflüsse klimaverträglich auszurichten.» Der Bundesrat anerkennt dies zwar, verzichtet aber trotzdem auf klare Rahmenvorgaben und setzt einzig auf mehr Transparenz und – wie so häufig – auf noch zu machende Analysen: Er werde weitere Forschung unterstützen, zum Beispiel in Bezug auf die Folgen künftiger Investitionen für die Biodiversität. Dabei könnte der Finanzmarkt mit seinem Investitionsvolumen ein äusserst wirksamer Hebel für nachhaltige Entwicklung sein. Bundesrat und Parlament müssen nur wollen.

Die öffentliche Beschaffung – ein weiterer wichtiger Hebel, um die nachhaltige Entwicklung voranzubringen – wird in der SNE 2030 nur am Rand erwähnt. Dabei könnte der Bund hier eine Vorbildfunktion einnehmen und bei der Beschaffung auch soziale Nachhaltigkeitskriterien anwenden, wie es das 2019 revidierte Gesetz vorsieht. Der Bundesrat aber setzte sich über das Gesetz hinweg, schränkte die sozialen Kriterien in der dazugehörenden Verordnung von 2020 stark ein und löste damit auch im Parlament Irritationen aus.

Der Bundesrat hat mit seiner Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 nichts falsch gemacht, sich aber auch keine Lorbeeren geholt. Denn die Strategie bringt nichts Neues und wird auch keinen politischen und strukturellen Wandel in Richtung nachhaltiger Entwicklung bewirken. Dazu bräuchte es eine Politik, die bereichsübergreifend Lösungen entwickelt, dabei die gesamte Wertschöpfungskette einer nachhaltigen Produktion im Blick behält, die plantaren Grenzen einhält und so auch Ländern im globalen Süden eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht – kurz: einen systemischen Ansatz. Denn Ziel muss sein, das menschliche Handeln in allen Sektoren so zu verändern, dass die Welt im Jahr 2030 nachhaltig ist, auf der Grundlage der universellen Menschenrechte.