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Keine Beschaffung ohne soziale Nachhaltigkeit

Die Bundesverwaltung steht im politischen Gegenwind
VON: Geert van Dok, Bernd Steimann - 07. Mai 2021
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Mit der Revision des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen hat das Schweizer Parlament die soziale Nachhaltigkeit zu einem wichtigen Beschaffungskriterium gemacht. Bei den Kantonen stiess das auf grossen Anklang, bei der Bundesverwaltung hingegen weniger. Diese überging in der dazugehörigen Verordnung den Willen des Gesetzgebers und schränkte die soziale Nachhaltigkeit wieder ein. Nun regt sich Widerstand im Parlament.

Am 1. Januar 2021 trat das neue «Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen» (BöB) in Kraft. In der Schlussabstimmung am 21. Juni 2019 hatten beide Parlamentskammern mit der Gesetzesrevision einstimmig einem eigentlichen Paradigmenwechsel zugestimmt: Im Zweckartikel des BöB wurde die Nachhaltigkeit in allen drei Dimensionen aufgenommen. Das Gesetz will bei öffentlichen Beschaffungen von Gemeinden, Kantonen und Bund nicht mehr den preisgünstigsten Einsatz der öffentlichen Mittel, sondern «den wirtschaftlichen und den volkswirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltigen Einsatz der öffent­lichen Mittel» (Art. 2.a). Damit erhielt die Nachhaltigkeit, wie sie auch in der «Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung» verankert ist, bei Beschaffungen endlich den Stellenwert, den sie verdient.

Der unfeine Unterschied in der Verordnung

Artikel 12.2 des Gesetzes schreibt vor, dass Anbieter «mindestens die Kernübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) einhalten» müssen. Darüber hinaus kann die Auftraggeberin «die Einhaltung weiterer wesentlicher internationaler Arbeitsstandards fordern und entsprechende Nachweise verlangen sowie Kontrollen vereinbaren». Diese Ausweitung gefällt Teilen der Bundesverwaltung offenbar nicht. So schränkt die vom federführenden Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL) vorgelegte und vom Bundesrat im Februar 2020 verabschiedete Verordnung über das öffentliche Beschaffungswesen (VöB) diese Bestimmung wieder deutlich ein. Artikel 4.2 der VöB, die das Gesetz umsetzen und konkretisieren soll, hält kurzerhand fest, dass Beschaffungsstellen neben den IAO-Kernkonventionen nur «die Einhaltung von Prinzipien aus weiteren Übereinkommen der IAO verlangen [können], soweit die Schweiz sie ratifiziert hat». Von einer Ratifizierung durch die Schweiz ist im Gesetz aber nirgends die Rede.

Die Bestimmung in der Verordnung schliesst damit allgemein anerkannte, branchenspezifische Standards einer Lieferkette wie den Fairtrade-Standard oder den Global Organic Textile Standard (GOTS) aus. Mit der Folge, dass eklatante Lücken bezüglich sozialer Mindestnormen bestehen bleiben: Zentrale Aspekte wie exzessive Arbeitszeiten, informelle Arbeitsbeziehungen oder ausbeuterische Löhne können nicht als Ausschlusskriterien angewendet werden, weil die Schweiz solches zwar im Inland arbeitsrechtlich verhindert, entsprechende IAO-Übereinkommen aber nicht ratifiziert hat.

Alle wollen soziale Nachhaltigkeit …

Der Paradigmenwechsel im BöB wurde weitherum begrüsst – auch in Wirtschaftskreisen. Denn mit der gesetzlich verankerten Kann-Formulierung wird es den Beschaffungsstellen endlich erlaubt und überlassen, die sozialen Anforderungen auszuweiten. Damit beseitigte das Parlament eine jahrelange Rechtsunsicherheit, die gerade für fortschrittliche Beschaffungsstellen ein Hindernis darstellte. Kaum war das Gesetz unter Dach und Fach, nahm das Interkantonale Organ für das öffentliche Beschaffungswesen (InöB) eine Neufassung der «Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB)» in Angriff, ein Konkordat mit einheitlichen Regeln. Am 15. November 2019 wurde diese Vereinbarung von den Kantonen einstimmig verabschiedet. Seither sind diese daran, in eigenen gesetzgeberischen Verfahren den Beitritt zum Konkordat in die Wege zu leiten und so die IVöB in ihr kantonales Recht zu übernehmen. Die revidierte Vereinbarung tritt in Kraft, sobald zwei Kantone dem Konkordat beigetreten sind. Als erster Kanton hat Appenzell Innerhoden den Beitritt beschlossen, in elf weiteren Kantonen läuft derzeit das Beitrittsverfahren.

Auch anlässlich der ersten nationalen «Online-Tagung nachhaltige öffentliche Beschaffung», die dieses Jahr im März auf Einladung der BKB (Beschaffungskonferenz des Bundes) und der KBOB (Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren) mit Unterstützung verschiedener Ämter und Verbände stattfand, bestätigte sich, dass der gesetzlich verankerte Paradigmenwechsel von allen begrüsst wird. Dabei gehen grosse Beschaffungsstellen von Post, Stadt Zürich oder armasuisse voran. Ebenso aber zeigte sich, dass viele Beschaffungsstellen noch ganz am Anfang stehen und Unterstützung benötigen.

… zumindest fast alle

Doch wurde an der Tagung auch deutlich, dass das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) bei den internationalen Lieferketten auf der eingeschränkten Auslegung der «sozialen Dimension der Nachhaltigkeit» in der VöB beharrt. Demnach dürfen Beschaffungsstellen nur die Einhaltung der von der Schweiz ratifizierten IAO-Abkommen verlangen – dies entgegen dem Willen des Parlaments. Warum das SECO auf dieser Position beharrt, wird nicht klar. Ebenso unklar bleibt, weshalb trotz des grossen öffentlichen Interesses an der Umsetzung des BöB auf eine Vernehmlassung zur VöB verzichtet wurde. Stattdessen gab es lediglich eine «Konsultation» in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK), die nicht einmal in deren Medienmitteilungen auftauchte.

Das Beunruhigende daran ist, dass das SECO als Expertin für Sozialkriterien auftritt und so bei Gemeinden und Kantonen seine Sicht propagieren kann. Zwar gilt die Einschränkung in der VöB nur für Beschaffungen des Bundes. Er hat keine rechtliche Kompetenz, sich in das kantonale Vergaberecht einzumischen (genau dafür gibt es ja das Konkordat IVöB). Fakt ist aber, dass Bund und Kantone gemäss der neuen Beschaffungsstrategie vom Oktober 2020 den Vollzug harmonisieren wollen. Folglich werden sie versuchen, überall die gleichen Standard-Selbstdeklarationen anzuwenden und diese flächendeckend zur Verfügung zu stellen. Damit entsteht ein Anreizsystem für Kantone und Gemeinden, die vom Bund zur Verfügung gestellte Selbstdeklaration zu übernehmen.

Parlamentarischer Widerstand

Im September 2020 wurde das Parlament darauf aufmerksam, dass die Bundesverwaltung das beschlossene Gesetz hinsichtlich der sozialen Nachhaltigkeit in der VöB sehr eigenwillig auslegt. In einer Anfrage wollte Nationalrat Martin Landolt (BDP) wissen, wie der Bundesrat diese «unnötige Einschränkung» und «die unterschiedliche Umsetzung bzw. Interpretation zwischen Bund und Kantonen» erkläre. Wortreich antwortete der Bundesrat im November, die Regelung in Art. 4.2 der VöB diene «der Klärung». Damit gab sich Landolt nicht zufrieden. Am 9. März 2021 doppelte er darum mit einer Interpellation nach und pochte damit auf die «vom Gesetzgeber geforderte Stärkung der sozialen Nachhaltigkeit» – dieses Mal unterstützt von elf weiteren WAK-Mitgliedern von links bis rechts. Mit dem Vorstoss wird der Bundesrat nun aufgefordert zu erklären, warum er zulässt, dass die Verwaltung mit der VöB dem Wunsch des Gesetzgebers widerspricht, und warum dazu nie eine öffentliche Vernehmlassung durchgeführt wurde.

Da gerade bezüglich des Beschaffungsmonitorings zur Nachhaltigkeit in allen drei Dimensionen noch vieles unklar ist, möchte Landolt in seiner Interpellation auch wissen, «mit welchen spezifischen Kriterien […] das Beschaffungsmonitoring des Bundes ab 2021 ergänzt [wird], um den Umfang der Ausrichtung auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu messen». Die Antwort des zuständigen Finanzdepartments (EFD) auf die Interpellation liegt noch nicht vor. Man darf gespannt sein.