Horticulturist Antonia Jackson, 19 (left) and Shakira Kassim, 18 from Tanzania | © Stella Oguma

Hunger bekämpfen, ganz konkret

Welthunger-Index: Die Lösungen liegen auf dem Tisch
VON: Patrik Berlinger - 05. November 2025
© Stella Oguma

Immer noch haben rund 700 Millionen Menschen zu wenig Essen. Und das in einer Welt, die längst alle satt machen könnte. Es mangelt weder an Warnsignalen noch an konkreten Lösungen. Sondern am politischen Willen, an internationaler Kooperation und an einer konsequenten Umsetzung bewährter Ansätze.

Viele Jahre lang kannten die Statistiken zum weltweiten Hunger nur eine Richtung: Hunger nahm ab. Seit 2016 stagniert die Zahl der unterernährten Kinder, Frauen und Männer jedoch. Das in der Agenda 2030 erklärte Ziel «Zero Hunger» bis 2030 wird nicht erreicht werden. Zu diesem Schluss kommen die Welthungerhilfe, Concern Worldwide und das Friedens-Institut der Ruhr-Universität, die am 9. Oktober 2025 gemeinsam ihren neuen Welthunger-Index (WHI) veröffentlicht haben.

Während Länder wie China, Chile oder Costa Rica den Hunger fast vollständig überwunden haben, stehen viele afrikanische Länder südlich der Sahara sowie auch in Südasien nach wie vor vor grossen Herausforderungen. «Sehr ernst» ist die Lage laut aktuellem Bericht in den sieben Ländern: Burundi, Demokratische Republik Kongo, Haiti, Jemen, Madagaskar, Somalia und Südsudan. In weiteren 35 Ländern ist die Situation «ernst».

Knapp 700 Millionen Menschen haben zu wenig Essen

Über acht Prozent, bzw. geschätzte 673 Millionen Menschen, leiden an Unterernährung (einer der vier Indikatoren des WHI; die anderen drei sind Wachstumsverzögerung, Auszehrung bei Kindern sowie die Kindersterblichkeit). Damit steht die Weltgemeinschaft im Kampf gegen den Hunger wieder auf demselben Feld wie vor 15 Jahren. Verantwortlich für den Stillstand sind eine Reihe von Krisen, die sich überlagern und gegenseitig verstärken. Die schlimmsten Hungertreiber sind bewaffnete Konflikte wie in Gaza und im Sudan, wobei sie oft zugleich Folge und Ursache wirtschaftlicher Instabilität sind. Vermehrt hinzu kommen die negativen Auswirkungen der Klimakrise; zunehmend bedrohen Extremwetterereignisse regionale Ernährungssysteme.

Dass sich 2024 die Zahl der Menschen in akuter Hungersnot verdoppelt hat, ist ein Armutszeugnis der Staatengemeinschaft. Anstatt nun aber die humanitäre Hilfe auszubauen, sparen die Regierungen ausgerechnet jetzt. Gleichzeitig erhöhen sie die Rüstungsausgaben. Handfest treffen die Kürzungen der USA und anderer Geberländer jedenfalls bereits heute das Welternährungsprogramm der UNO, das mit rund 40% weniger Budget auskommen und die Hilfe rationieren muss. In aller Klarheit bedeutet dies: Hilfsorganisationen müssen auswählen, wen sie retten können und wen nicht. Dabei wird die wahre Dimension des Hungers unterschätzt, denn aus mehreren Krisenstaaten fehlen aktuelle Daten. Wo Hunger unsichtbar bleibt, fliesst keine Hilfe, während das Leid im Verborgenen weiterwächst.

Handlungsanleitung für konkrete Verbesserungen

Doch verzeichnet der Welthunger-Index 2025 in einigen Ländern auch Fortschritte – etwa in Somalia, Uganda, Ruanda, Togo und Mosambik oder in Bangladesch und Nepal. Was tun? Vier Eckpfeiler für eine langfristige Verbesserung der Ernährungslage:

Regenerative und klimaangepasste Landwirtschaft
Seit über 15 Jahren verweist der Weltagrarbericht von UNO und Weltbank auf regenerative, agrarökologische Landwirtschaft, um den weltweiten Hunger einzudämmen. Agrarökologie wird von der FAO vorangetrieben und von der DEZA und Organisationen wie Helvetas unterstützt. Sie stellt eine Alternative zur grossflächigen, exportorientierten Landwirtschaft und zum industriellen Ernährungssystem dar. Agrarökologie gründet auf lokalem, traditionellem Wissen und verbindet es mit Erkenntnissen der modernen Wissenschaft. Ackerbau und Viehwirtschaft werden gemischt betrieben, was die Biodiversität, die Bodengesundheit, die Ernährungsvielfalt und die Widerstandsfähigkeit der Landwirtschaft gegenüber extremer Hitze und Sturzfluten im Zuge der Klimakrise erhöht.

Dank einheimischer und vielseitiger Nahrungsmittelproduktion und regionalen Absatzmärkten wird eine ortsnahe Versorgung mit gesunden und erschwinglichen Lebensmitteln gefördert. Dabei sind agrarökologische Ansätze auch gut fürs Klima, weil der Verzicht auf eine intensive Tierhaltung den Ausstoss von Ammoniak durch Hofdünger und von Methan bei Wiederkäuern vermindert. Tiere werden ohne Kraftfutter gehalten, das wegen Waldrodungen und intensivem Ackerbau für hohe Treibhausgas-Emissionen sorgt und auf dessen Landfläche oft Nahrungsmittel angebaut werden könnten.

Nationale Priorisierung und lokale Umsetzung
Regierungen müssen die Hungerbekämpfung zur Priorität machen und sich rechtlich verpflichten, die Ernährungssysteme entsprechend anzupassen. Diese Anpassungen können aber nur erfolgreich sein, wenn alle Betroffenen – auch Minderheiten oder Frauen – miteinbezogen werden und ihr Wissen einbringen können. Dafür braucht es gute Regierungsführung (Governance) auf lokaler Ebene, staatliches Geld für die Umsetzung und klare Vorgaben.

Konkret können Regierungen ausgewogene Schulmahlzeiten und lokale Wochenmärkte in städtischen Randgebieten fördern sowie Bio- und gesunde Produkte gezielt vergünstigen, um den versteckten Kosten der Ernährung für Umwelt, Klima und Gesundheit Rechnung zu tragen. Umweltschädliche und gesundheitsschädigende Pestizide können beschränkt oder verboten und industrielle Landwirtschaft klaren Regeln unterworfen werden. Mit Fortbildung und Umschulungen können Landwirt:innen unterstützt werden, ihre Produktion anzupassen, um wirtschaftlich und nachhaltig produzieren zu können.

Systemische und ganzheitliche Herangehensweise
Nepal hat den grössten Rückgang von Hunger in der Region verzeichnet. Das Beispiel zeigt, dass Hunger systemisch und ganzheitlich bekämpft werden muss – und kann. Nepal hat dafür das Recht auf Nahrung auf Verfassungs- und Gesetzesebene festgeschrieben, Gesundheits- und Ernährungsprogramme eingeführt, etwa Sensibilisierungskampagnen für gesundes Essen. Gleichzeitig konnten für viele Menschen – auch mit der Unterstützung von Organisationen wie Helvetas – die Gesundheits- und Wasserversorgung sowie sanitäre Anlagen und Hygiene verbessert werden, was die Hungerbekämpfung ergänzend stärkt.

Auch eine gute Infrastruktur kann helfen: In Nepal hat Helvetas im Auftrag der DEZA zusammen mit lokalen Ingenieur:innen über 10'000 Hängebrücken gebaut. Dadurch haben Millionen von Menschen in abgelegenen Regionen Zugang zu lokalen Märkten erhalten, wo sie ihre Produkte verkaufen und mit dem Erlös gesunde Lebensmittel kaufen können. Die systemischen Errungenschaften in Nepal zeigen, dass die Entwicklungszusammenarbeit gestärkt werden sollte. Gerade im Hinblick auf häufigere Extremwetterereignisse sind vorausschauende, verlässliche und gut koordinierte Investitionen wichtig.

Ein Stück weit auch unsere Verantwortung
Schliesslich ist auch relevant, wie reiche Länder ihre Ernährungssysteme ausgestalten. In der Schweiz werden heute rund 60% der verfügbaren Ackerfläche für den Anbau von Tierfutter wie Mais, Weizen und Soja verwendet. Laut Bundesamt für Umwelt BAFU könnte die Schweizer Landwirtschaft mit nur inländischem Tierfutter noch gut die Hälfe der heutigen Fleischmenge produzieren, würde aber 40% ihrer Treibhausgas-Emissionen einsparen. Grosses CO2-Sparpotenzial hätten auch weniger Food Waste, Kostenwahrheit (Internalisierung der externen Kosten für Gesundheit, Umwelt und Klima) oder die Reduktion von Mineraldüngern und Pflanzenschutzmitteln, sowie pflanzenbasierte Produkte, denn Futtermittel- und Lebensmittelanbau konkurrieren miteinander.

 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation
Humanitarian Aid Switzerland | © Keystone/Anthony Anex

Schoggi, Käse, Matterhorn – und Entwicklungshilfe

Elf gute Gründe für eine starke internationale Zusammenarbeit
© Mauricio Panozo

Der lange Weg nach Belém

Rückblick auf Erfolge von Klimakonferenzen