Myanmar Farmer plants rice | © Keystone/EPA/Hein Htet

Saatgut: eine Lebensversicherung der Natur

Der Widerstand gegen die grossflächige Landwirtschaft wächst
VON: Masha Scholl, Patrik Berlinger, Rudolf Lüthi - 11. Dezember 2025
© Keystone/EPA/Hein Htet

Die wachsende Besorgnis über schwindende Bodengesundheit und unwiederbringliche Umweltschäden veranlasst weltweit immer mehr Landwirt:innen dazu, sich von Monokulturen zu verabschieden. Mit vielfältigem, an die jeweiligen Bedingungen angepasstem und lokal produziertem Saatgut können Bauernfamilien die negativen Auswirkungen des Klimawandels mindern.

Saatgut ist die Nanotechnologie der Natur. In Samen steckt, winzig verpackt, der Code aus Millionen Jahren evolutionärer Anpassung. Saatgut ist auch kulturelles Gedächtnis. Traditionelle Sorten haben einzigartige Geschmacks-, Lagerungs- und Kochqualitäten, die über Jahrhunderte hinweg verfeinert wurden. Viele einheimische Maissorten in Lateinamerika lassen sich über 5000 Jahre zurückverfolgen. Gewisse traditionelle Reissorten werden seit Tausenden von Jahren kultiviert und von Kleinbäuer:innen über Generationen hinweg an spezifische Mikro-Klimata angepasst – etwa an die Terrassen im Himalaya oder die Überschwemmungsgebiete in Bangladesch.

Seit jeher wurde Saatgut gehegt und gepflegt, und gehandelt. Bäuerinnen und Bauern gewannen es aus ihren Nutzpflanzen und säten es wieder aus, tauschten es untereinander und teilten es. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere in den 1960er Jahren wurde die Landwirtschaft allmählich intensiviert, in der Absicht, genügend Lebensmittel für eine wachsende Bevölkerung bereitzustellen. Dazu wurden standardisierte «Hochertragssorten» gezüchtet, die mit Hilfe massiven Einsatzes von Pestiziden und Düngemitteln besonders hohe Erträge erzielten. Kurzfristig wurden die Ernten zwar gesteigert, allerdings stark zulasten der ökologischen Nachhaltigkeit und der genetischen Vielfalt der Kulturpflanzen.

Weniger Vielfalt

Mit der Entwicklung von hybridem Saatgut und gentechnisch verändertem Saatgut und dessen patentrechtlichen Schutz ging die Vielfalt der Kulturpflanzen in den 1990er Jahren noch einmal deutlich zurück. Heute werden von etwa 30’000 essbaren Pflanzenarten nur noch etwa 150 angebaut, und gerade einmal fünf Getreidearten liefern 60 Prozent der verfügbaren Kalorien: Reis, Weizen, Mais, Hirse und Sorghum. Während die Saatgutfreiheit vieler Bäuerinnen und Bauern eingeschränkt wurde, verbreitete sich mit den Möglichkeiten der Gentechnik ein neues Geschäftsmodell der Chemie- und Pharmafirmen: nämlich Saatgut im Paket mit Pestiziden zu verkaufen. In der Folge entwickelte sich die Saatgutindustrie zu einem gigantischen Oligopol, das seither die weltweite Nahrungsmittelversorgung dominiert.

Weltweit sind in den letzten Jahrzehnten viele Bauernfamilien dazu übergegangen, «leistungsfähiges», oft auch gentechnisch verändertes Saatgut zu kaufen. Mit diesem erzielen sie hohe Ernteerträge; sie machen sich aber auch abhängig von multinationalen Saatgutfirmen. Die Landwirte kaufen das Saatgut jedes Jahr neu, da die Samen nicht einfach wieder ausgesät werden können. Fällt die Ernte bei Überschwemmungen, Schädlingsbefall oder Dürre aus, bleibt ihnen oft nichts als die hohen Kosten fürs Saatgut. Gerade in ärmeren Ländern kann dies zu einer Schuldenspirale führen und die Armut verschärfen. Während ein Viertel der Menschheit unter «Ernährungsunsicherheit» leidet, spielt eine kleine Gruppe multinationaler Konzerne eine vorherrschende Rolle in der Lebensmittelindustrie: Syngenta aus der Schweiz, Bayer, BASF und KWS aus Deutschland, Corteva aus den USA und Limagrain aus Frankreich kontrollieren zwei Drittel des kommerziellen Saatguts weltweit und beschleunigen den Konzentrationsprozess weiter.

Bis 2050 werden voraussichtlich über neun Milliarden Menschen die Welt bevölkern. Damit alle genug zu essen haben, muss die Nahrungsmittelproduktion um 60 Prozent gesteigert werden. Zweifelsohne wird die Kontrolle über das Saatgut deshalb immer wichtiger. Am globalen Saatgutmarkt, dessen Handelswert 2025 bei knapp 47 Milliarden US-Dollar lag und bis 2034 auf 53 Milliarden ansteigen dürfte, hat gentechnisch verändertes Saatgut mittlerweile einen Anteil von über 40 Prozent. Es wird erwartet, dass der Markt für gentechnisch veränderte Nutzpflanzen wie Sojabohnen, Baumwolle, Mais und Raps bis 2029 mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 6,3 Prozent auf 32 Milliarden anwachsen wird. Nordamerika war 2024 die Region mit den grössten Anbauflächen, Südamerika ist die am schnellsten wachsende Region, Afrika «hat grosses Potenzial».

Trendwende zu mehr Nachhaltigkeit?

Allerdings veranlasst die Besorgnis über abnehmende Bodengesundheit, die Umweltzerstörung und die Abhängigkeit von internationalen Agrarkonzernen viele Landwirt:innen dazu, Lösungen zu finden, um zu den Wurzeln zurückzukehren. Im Fokus steht die agrarökologische Landwirtschaft, die von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) vorangetrieben und im offiziellen Länderbericht der Schweiz zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung propagiert wird. Der Ansatz verbindet traditionelles Wissen mit neuen Technologien und beschränkt künstliche Hilfsmittel auf das Allernotwendigste. Die Agrarökologie schützt die Böden, macht sie resilient und nutzt klimaangepasste und resistente Saatgutsorten (Krankheits- und Schädlingstoleranz) zur Anpassung an die Erderwärmung.

Obwohl grosse Konzerne die Handelsketten in der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion dominieren, bleibt es möglich, alternative Modelle voranzutreiben. Kleinbauern, soziale Bewegungen und Entwicklungs- und Umweltorganisationen engagieren sich lokal und global dafür, dass Kartellgesetze gestärkt und durchgesetzt werden, und dass unvorteilhafte Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums und unfaire Handelsabkommen verhindert werden – damit die Bäuerinnen und Bauern die Kontrolle über ihr einheimisches Saatgut zurückgewinnen. Nach wie vor wegweisend dafür ist die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Bauern (UNDROP), die 2018 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Sie verankert das Recht auf Saatgut und biologische Vielfalt und fordert die Staaten auf, Kleinbauern an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, die ihr Leben, ihr Land und ihre Lebensgrundlagen betreffen.

Lokale Samen von «Champions»

Drei Viertel der Pflanzenvielfalt ist gemäss FAO seit den 1950er Jahren wegen der Konzentration auf Hochleistungssorten verloren gegangen. Es braucht aber eine Vielfalt, um die Nahrungsmittelversorgung bei unvorhersehbaren Extremwettern oder neuen Schädlingen zu sichern. Am Golf von Mottama in Myanmar zum Beispiel verzichten Bäuer:innen bewusst auf Hybridsorten und produzieren eigenes, hochwertiges Saatgut. Mit Erfolg: ihre Ernten und auch ihr Einkommen sind dadurch gestiegen. Das funktioniert so: Jedes Dorf wählt zwei oder drei «Champions» aus – Bäuer:innen, die Samen von ihren ertragsstärksten und widerstandfähigsten Pflanzen vermehren. So bleibt die Vielfalt erhalten. Das ist überlebenswichtig, denn die Region wird immer wieder von Dürren oder Überschwemmungen heimgesucht. Wirbelstürme und Sturzfluten versalzen die Böden, Trockenheit und Staunässe wechseln sich ab. Keine einzelne Kulturpflanzensorte kann all diesen Bedrohungen standhalten. Indem sie auf Artenvielfalt und Mischkulturen statt Monokulturen setzen, verbessern die Bäuer:innen sowohl ihre klimatische als auch ihre wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit.

Die Saatgutproduktion bleibt eine Herausforderung: Bevor Saatgut verkauft werden darf, muss es inspiziert, getestet und zertifiziert werden. Um diese Hürden zu überwinden, haben sich die Bäuer:innen in der Region des Golfs von Mottama zusammengeschlossen – zunächst in Dorfgruppen, dann organisiert in einer regionalen Vereinigung, unterstützt von Helvetas und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Heute, sechs Jahre später, arbeitet diese ohne Hilfe von aussen in 93 Dörfern und bietet ihren Mitgliedern Zugang zu sicheren Lagerräumen, sogenannten Saatgutbanken, zu Tests, Zertifizierungen und Absatzmöglichkeiten.

Angesichts klimatischer Veränderungen sind wir alle auf Arten- und Sortenvielfalt angewiesen. Um die genetische Vielfalt zu sichern, wurden in vielen Ländern und Regionen der Welt «Saatgutbanken» eingerichtet. Die grösste befindet sich auf der norwegischen Insel Spitzbergen: Der sogenannte «Svalbard Global Seed Vault» ist ein riesiges unterirdisches Lager. Darin werden Saatgutproben aller Nutzpflanzen des Planeten bewahrt. Die Agrarindustrie ist gut beraten mitzuhelfen und den Schutz und die Förderung der weltweiten Saatgutvielfalt stärker zu unterstützen.

* Ruedi Lüthi ist Leiter der Beratungsdienste für Wasser, Ernährung und Klima bei Helvetas. Masha Scholl ist zuständig für internationale Kommunikation bei Helvetas.

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