Die «Nachhaltigkeitsinitiative» der SVP klingt attraktiv, hat aber tatsächlich mit nachhaltiger Entwicklung nichts am Hut. Anstatt die Zuwanderung mit Abschreckung und der Aufkündigung der EU-Beziehungen deckeln zu wollen, sollten wir uns vielmehr fragen: Wer pflegt künftig die wachsende Zahl älterer Menschen? Und wie halten wir die Wirtschaft nachhaltig am Laufen?
Laut dem Sorgenbarometer sind die Themen «Asylfragen», «Zuwanderung» und «Wohnkosten» nach den (jährlich steigenden) Krankenkassenprämien, dem (ungebremsten) Klimawandel und der (Finanzierung der) AHV die grössten Sorgen von Schweizer:innen. In Städten klagen manche über unbezahlbare Wohnungen, überfüllte Züge und Restaurants, in denen nur noch Englisch gesprochen wird. In ländlichen Regionen haben viele das Gefühl, «fremd im eigenen Land» zu sein. Für die Schweizerische Volkspartei (SVP) ist die angeblich «masslose Zuwanderung» für fast alle Probleme in der Schweiz verantwortlich: vom Verlust schweizerischer Werte und steigender Kriminalität bis hin zur Wohnungsknappheit, überlasteten Verkehrswegen, steigendem Energieverbrauch und der Zubetonierung der Landschaft.
Die SVP hat schon viele Initiativen gegen die Zuwanderung lanciert – die aktuelle ist gleichzeitig die bislang radikalste. Zwar erscheint das Anliegen der «Nachhaltigkeitsinitiative» zunächst harmlos, da der Zeithorizont der Initiative gegen eine 10-Millionen-Schweiz ins ferne Jahr 2050 gesteckt ist. Allerdings müsste die Personenfreizügigkeit mit der EU bereits bei einer geringen Zunahme der Bevölkerung sistiert werden. Bewusst nimmt die Partei damit das Ende des bilateralen Wegs in Kauf. Und dies, ohne dass eine plausible Alternative in Sicht wäre. Im Herbst lehnte der Nationalrat die Initiative ohne Gegenvorschlag ab. Im Winter berät der Ständerat die Initiative. Nach aktuellem Stand kommt sie im Sommer 2026 vors Volk.
Wichtige Arbeitskräfte und demographische Verjüngung
Die Initiative verlangt vor allem Massnahmen im Asylbereich. Das passt ins Bild: Seit Jahren versucht die SVP, Migration rhetorisch und auf polemische Art und Weise auf «Asylanten» und «illegale Migranten» zu reduzieren. Dabei macht der Asylbereich nur einen kleinen Teil der Zuwanderung aus. Die Partei lenkt davon ab, dass die Einwandernden grossmehrheitlich aus der EU und insbesondere aus den Nachbarländern stammen. Und dass sie hier gebraucht werden, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Zahlen von 2024 zeigen: Erstens kommen 70 Prozent der Zuzüger per Personenfreizügigkeit aus einem EU oder EFTA-Land. Knapp 30 Prozent stammen aus «Drittstaaten» wie Kosovo, Türkei, Nordmazedonien und das Vereinigte Königreich. Nur eine Minderheit davon – weniger als 7% – sind Asylsuchende. Anders als es die SVP andeutet, ist der Asylbereich für die Debatte rund um die 10-Millionen-Schweiz also kaum relevant (siehe Kasten unten).
Zweitens kommen jene in die Schweiz, die als Arbeitskräfte dringend gebraucht werden: Handwerker auf den Baustellen und Erntehelfer für landwirtschaftliche Betriebe, genauso wie ärztliches Fachpersonal und Spezialist:innen für Tech-Firmen und die Pharmabranche. Wobei die Zuwanderung weder für eine hohe Arbeitslosigkeit noch einen Anstieg bei der Sozialhilfe sorgt. Und drittens kommen jüngere Menschen, die angesichts der tiefen Geburtenrate und der demografischen Alterung entscheidend für die wirtschaftliche Stabilität sind. Beispielhaft ist der Pflegebereich, wo die vielen (fertig ausgebildeten!) ausländischen Fachkräfte die betagten Einheimischen in Altersheimen betreuen. Die Zuwanderung sorgt für eine Verjüngung der Gesellschaft, wodurch die AHV auf Dauer entlastet wird.
Kaufkraft stärken und Arbeitskräftemobilität nutzen
Die Migration mit umstrittenen Methoden wie «Illegalisierung» und Aufkündigung der EU-Verträge sowie gegen die eigenen Bedürfnisse nach demographischer und wirtschaftlicher Stabilität deckeln zu wollen, ist kurzsichtig. Zielführender wäre eine ehrliche Diskussion darüber, wie die Kaufkraft der «einfachen Leute» gestärkt werden kann. Zum Beispiel, indem man preisgünstige Wohnungen fördert und missbräuchliche Mieten bekämpft, in Gesundheitsprävention investiert und Krankenkassenprämien senkt, den ÖV stärkt und nachhaltige Mobilität erschwinglich macht, gut bezahlte Jobs in der Green Economy fördert und für faire Löhne in der Pflege sorgt.
Lohnend wäre auch eine nüchterne Diskussion über weltweite demographische Trends: In Subsahara-Afrika und Südasien wächst die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, während viele Staaten vor der Herausforderung stehen, dass nicht ausreichend und fair bezahlte Arbeitsplätze geschaffen werden. Gleichzeitig könnten Industrieländer bis 2050 Schätzungen zufolge bis zu 750 Millionen Arbeitskräfte benötigen. Der absehbare «Arbeitskräftemangel» kann angesichts der alternden Gesellschaften nicht vollständig durch eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen oder eine Erhöhung des Rentenalters behoben werden. Das gilt auch für die Schweiz. Eine Lösung liegt in der «internationalen Arbeitskräftemobilität», wobei Programme im Rahmen der Internationalen Zusammenarbeit dazu beitragen, die Qualifikationen mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes über Grenzen hinweg in Einklang zu bringen.
Chancen einer humanen und zirkulären Arbeitsmigration
Eine sichere, humane und freiere Arbeitsmigration befriedigt nicht nur die Bedürfnisse in den hoch- und niedrigqualifizierten Segmenten der Aufnahmeländer. Die Migrierenden leisten auch einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Herkunftsländer: mit Geldrücksendungen können sie ihre Familien unterstützen und nahestehenden Personen dazu verhelfen, ein kleines Geschäft zu eröffnen oder in Ausbildung zu investieren. Kehren diese Menschen nach einer Zeit wieder zurück in ihre Heimat, können sie das erlernte Wissen für die wirtschaftliche und nachhaltige Entwicklung ihres Landes einsetzen.
Die Migrierenden selbst profitieren, indem sie ihr Knowhow und ihre Ausbildung nutzen können, und aussichtsreiche Job- und Weiterbildungsmöglichkeiten erhalten. Werden Migrant:innen dazu ermutigt, sich weiterhin in ihren Heimatländern zu engagieren, eine Rückkehr zu erwägen und zu «zirkulieren», ist viel gewonnen. Der Schlüssel zur Förderung zirkulärer Migration liegt darin, ihnen das Recht und reale Möglichkeiten zur erneuten Migration zu eröffnen, falls eine Rückkehr scheitert. Diese Sicherheit mindert berechtigte Ängste vor dem Schritt zurück in die Heimat.
Wir sollten die Zeit vor der Abstimmung zur sogenannten «Nachhaltigkeitsinitiative» nutzen, damit sich die Schweizer Politik und Bevölkerung mit den wirklich spannenden Migrationsfragen auseinandersetzt.
* Régis Blanc ist bei Helvetas Senior Advisor für Migration.
Tatsächlich ist der Asylbereich für die Diskussion über die 10-Millionen-Schweiz kaum relevant. Und das aus einem einfachen Grund: Während der Asylanteil an der gesamten Zuwanderung in die Schweiz verhältnismässig gering ist, bleibt die überwiegende Mehrheit der weltweit vertriebenen Menschen im Globalen Süden. Angetrieben durch autoritäre Regierungen, langwierige Konflikte und klimabedingte Verwüstungen, stieg deren Zahl allein in den vergangenen zehn Jahren von 68 Millionen (2016) auf geschätzte 140 Millionen Menschen im Jahr 2025. Die grösste «Last» bei der Aufnahme von Geflüchteten (in Relation zur nationalen Wirtschaftskraft und zur dortigen Bevölkerung) tragen Länder wie Kolumbien, Pakistan und Bangladesch, der Tschad, Niger und Uganda, oder der Libanon und Jordanien.
Helvetas kennt die Situation: Die Entwicklungsorganisation ist unter anderem im grössten Flüchtlingslager der Welt tätig. Es befindet sich in Bangladesch, eines der dichtest besiedelten Länder der Welt. Einst für eine halbe Million ausgelegt, wächst das Lager stetig – es zählt heute beinahe eine Million Rohingyas. Die Lage scheint längst ausser Kontrolle und die weltweiten Kürzungen bei den Hilfsgeldern an die UNO und an Entwicklungs-NGOs lasten schwer. Selbstverständlich müssen die Sorgen von Schweizerinnen und Schweizern über die Situation im schweizerischen Asylbereich ernst genommen werden. Aber sie sollten auch immer wieder ins (globale) Verhältnis gesetzt werden.
