Der Westbalkan steht politisch und wirtschaftlich auf einem wackeligen Fundament. Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit engagiert sich in der Region für bessere wirtschaftliche und politische Perspektiven, damit Menschen weniger Gründe haben, wegzugehen.
Berufslehre nach Schweizer Vorbild
«Bitte probiere!» Irina Velkova, 18, streckt mir einen Teller mit einem Pfannkuchen entgegen, den sie mit viel Schokolade und Puderzucker verziert hat. Es riecht herrlich in der Schulküche der Vancho Prke, der Mittelschule von Vinica, einer Kleinstadt im Osten Nordmazedoniens. Hier, in der Schulküche, vertiefen Irina und ihre Mitschüler:innen heute ihr Wissen in Lebensmittelkunde, einem Fach, das zu ihrer Ausbildung als künftige Lebensmitteltechnikerinnen und -techniker gehört.
Sie gehören zum ersten Jahrgang, der Ende Schuljahr an der Vancho Prke eine vierjährige duale Berufsbildung nach Schweizer Vorbild abschliesst, also eine Mischung aus Schulunterricht und praktischer Berufsbildung in einem Betrieb. Neben den angehenden Lebensmitteltechniker:innen werden an der Vancho Prke auch Maschinenmechanikerinnen, Textilverarbeiter sowie Speditions- und Logistikfachleute ausgebildet. Dass es in Nordmazedonien die duale Berufsbildung gibt, ist der Schweiz zu verdanken: Helvetas hat sie im Auftrag der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) initiiert. Nordmazedonien leidet, wie alle Länder im Westbalkan, unter einer grossen Abwanderung. Vor allem junge Menschen suchen ihr Glück im Ausland; zu gering sind die beruflichen Perspektiven in der Heimat. Aktuell leben noch etwa 1,6 Millionen Menschen im Land – über 700’000 sind ausgewandert, vor allem in europäische Länder wie Italien, Deutschland oder die Schweiz. Dadurch fehlen Nordmazedonien dringend benötigte Arbeitskräfte.

«Wir sahen die duale Berufslehre als Massnahme gegen die Abwanderung», sagt Kurt Wüthrich, bei Helvetas Nordmazedonien zuständig für die Berufsbildung. «Es musste uns einfach gelingen, die Regierung davon zu überzeugen.» Das war nicht schwierig, wie sich Natasha Janevska erinnert. Sie ist Berufsausbildungsexpertin bei der nordmazedonischen Handelskammer, die neben der Regierung die wichtigste Partnerin bei der Einführung der dualen Berufsbildung war: «Da bisher sowohl die theoretische als auch die praktische Ausbildung in der Schule stattgefunden hatte, fehlte die Vernetzung mit der Wirtschaft. Dadurch hatten viele junge Arbeitskräfte überhaupt keinen Bezug zum einheimischen Arbeitsmarkt », erklärt sie. Durch die frühe Anbindung an einen möglichen späteren Arbeitgeber sei das jetzt anders, die jungen Menschen sähen nun plötzlich auch im eigenen Land Arbeitsperspektiven.
Gligor Cvetanov, CEO MakProgres, Nordmazedonien
Etwas, das Gligor Cvetanov bestätigen kann. Er ist CEO von MakProgres, einer Lebensmittelfirma in Vinica, deren international bekanntester Brand «Vincinni» Detailhändler auf der ganzen Welt mit Schokolade, Biscuits und Snacks beliefert. Bei MakProgres absolvieren Irina und ihre Kolleg:innen den praktischen Teil ihrer Ausbildung. «Wenn die jungen Leute bei uns ihre Grundausbildung machen, ist die Chance gross, dass sie bei uns bleiben», sagt Gligor, «oder dass sie zu uns zurückkommen, zum Beispiel nach einer Zusatzausbildung.» Natürlich profitiere davon MakProgres als Firma. «Aber auch das Land gewinnt», sagt er, «denn so bleiben die Arbeitskräfte nach ihrer Ausbildung hier und wandern nicht ab.»
MakProgres ist eine von insgesamt 17 Firmen in Vinica, die inzwischen Jugendlichen Lehrplätze anbieten. Mit weltweit 650 Angestellten, 500 davon am Hauptstandort, ist MakProgres die grösste Arbeitgeberin in der Region. «Wir sind sehr froh um die Einführung des dualen Bildungssystems», sagt Gligor. «Früher kamen die Leute erst nach ihrer Mittel- oder Hochschulausbildung zu uns, ohne praktische Erfahrung.»

Irina und ihre Kolleg:innen arbeiten zwei Tage die Woche in der Firma, an den anderen drei Tagen gehen sie zur Schule. «Das gefällt mir sehr», sagt Irina, während sie in der betriebseigenen Lehrwerkstatt eine Schokoladetafel verziert. «Hier kann ich direkt anwenden, was ich in der Schule zum Beispiel über Lebensmittelhygiene gelernt habe.» Die Vancho Prke gehörte zu den ersten Schulen, die die neue Berufsbildung anboten. Inzwischen ist diese ein Erfolgsmodell: Während dieses Jahr zusammen mit Irina 20 Schülerinnen und Schüler ihre Berufslehre abschliessen, haben sich für den vierten Lehrgang, der im vergangenen Sommer gestartet ist, bereits 74 Jugendliche eingeschrieben. Und auch landesweit dürfen sich die Zahlen sehen lassen: Als das duale System 2017 eingeführt wurde, hätten zunächst nur eine Firma und eine Schule mitgemacht, erzählt Natasha Janevska von der Handelskammer. «Heute machen 560 Betriebe und 69 der insgesamt 73 Schulen, die eine Berufsausbildung anbieten, mit. Wenn das keine Erfolgsgeschichte ist!»

Attraktive Arbeitsplätze
Ferizaj im Süden Kosovos, nahe der Grenze zu Nordmazedonien. Erisa Spahiu, 21, kommt leicht atemlos ins Erdgeschoss des regionalen Ablegers von Speeex, einem Dienstleistungsunternehmen für Telekommunikationsanbieter. Eben noch sass die Jobtrainerin weiter oben im Callcenter und hörte bei Kundengesprächen mit. «Zur Qualitätssicherung», wie sie sagt. Auf Schweizerdeutsch. Erisa ist nämlich in Bellach im Kanton Solothurn aufgewachsen. Dorthin kam sie als Dreijährige, als ihre Mutter mit den Kindern zum Vater zog, der bereits in der Schweiz lebte. Als Erisa 16 Jahre alt war, zog die Familie wieder zurück nach Kosovo, das Heimatland ihrer Eltern. «Es war ein Kulturschock für mich», sagt Erisa, die damals in der Schweiz gerade die Sekundarschule beendet hatte. Sie sprach zwar leidlich Albanisch, aber richtig gelernt hatte sie die Sprache nie. «Meine Sprache war Deutsch, meine Kultur die schweizerische, ich bin immer pünktlich und ein bisschen eine Streberin.»

Beste Voraussetzungen für eine Arbeitsstelle bei Speeex. Die Firma wurde 2016 von Fikret Murati, 42, gegründet, der als Sohn kosovarischer Eltern in Reiden im Kanton Luzern aufgewachsen ist. Nach einer abgebrochenen Ausbildung im Pflegebereich wechselte er in die Telekommunikationsbranche, wo er schnell Karriere machte. 2016 erhielt er von einem ehemaligen Arbeitgeber, einem grossen Schweizer Telekommunikationsunternehmen, die Anfrage, im Kosovo ein Callcenter für die Schweizer Kundschaft aufzubauen. Fikret, damals gerade auf der Suche nach einer neuen Beschäftigung, sagte zu. Er stieg in Pristina bei einem Unternehmen mit 25 Angestellten ein, übernahm die Firma, und nur ein Jahr später hatte er bereits 250 Angestellte. Heute, neun Jahre nach der Gründung, beschäftigt Speeex an sieben Standorten im Land über 2000 Leute, die Dienstleistungen für Schweizer Telekommunikationsfirmen erbringen.
Fikret empfängt mich am Hauptsitz von Speeex, einem modernen grossen Glasbau in Pristina, derHauptstadt Kosovos. Gefragt nach dem Erfolgsgeheimnis seines Unternehmens, erzählt er mir, wie er zu Beginn gezielt junge Menschen angeworben hatte, die mit ihren Eltern während des Kosovo-Kriegs Ende der 1990er Jahre in die Schweiz oder nach Deutschland geflohen oder in einem dieser Länder geboren waren und später zurück in den Kosovo kamen. «Dank ihnen konnten wir die Schweizer Kundschaft von Beginn weg in ihren Landessprachen bedienen, und das war genau, was mein Auftraggeber wollte», erinnert sich Fikret.
Das schnelle Wachstum machte es bald schwierig, genügend Leute zu finden, die eine Schweizer Landessprache beherrschten. Deshalb baute Fikret zusammen mit Fachleuten von Helvetas und Unterstützung der Deza schon früh das firmeneigene Ausbildungszentrum «Speeex Education» auf. Dort erwerben angehende Mitarbeitende während drei bis sechs Monaten nicht nur das Fachwissen, das sie für die Betreuung der Schweizer Kundinnen und Kunden brauchen, sondern lernen in Sprachkursen zusätzlich auch Deutsch, Italienisch oder Französisch.
Erisa Spahiu, Jobtrainerin bei Speeex, zog von Bellach SO in den Kosovo
«Und, falls sie die Schweiz nicht aus eigener Erfahrung kennen, dann lernen sie auch Swissness», sagt Fikret. «In unseren Trainings erfahren die Lernenden, wie die Schweiz politisch und kulturell funktioniert, und was im Umgang mit Schweizerinnen und Schweizern wichtig ist.» Und hapert es mit dem Schweizerdeutsch, lernen die Speeex-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter im hauseigenen Trainingszentrum auch das. «Die Kundinnen und Kunden unserer Auftraggeber merken gar nicht, dass ihre Ansprechperson nicht in der Schweiz ist, sondern im Kosovo sitzt.»
Nicht zuletzt dank dieser breiten Ausbildung, die nicht nur künftigen Mitarbeitenden, sondern allen Interessierten offensteht, ist Speeex inzwischen eine so attraktive Arbeitgeberin, dass auch viele Junge mit Wurzeln in Kosovo in die Heimat ihrer Eltern ziehen, um bei Speeex zu arbeiten. Erst kürzlich hat die Firma gezielt in der Schweiz und in Deutschland Arbeitskräfte gesucht – 700 haben sich gemeldet, 200 haben den Schritt gewagt und leben und arbeiten inzwischen in Kosovo.

Kontext Westbalkan
Zum Westbalkan gehören Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Albanien, Kosovo und Nordmazedonien. Politische und ethnische Spannungen nehmen in der Region wieder zu; mangels Perspektiven wandern viele Menschen ab. Im Rahmen des Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten investiert die Schweiz in den Abbau der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten innerhalb der Europäischen Union und fördert Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, soziale Marktwirtschaft und die Zivilgesellschaft. Helvetas ist im Auftrag der Deza verantwortlich für zahlreiche Projekte, die wirtschaftliche Perspektiven schaffen und den sozialen Zusammenhalt stärken. Besonderes Augenmerk liegt auf jungen Menschen, Frauen, Roma, Menschen mit Behinderungen und LGBTQI-Angehörigen. Die Deza will sich nun sparbedingt aus Albanien zurückziehen. Helvetas ist derweil überzeugt: Nur eine starke und inklusive Gesellschaft schafft Stabilität. –MLI
Den Bürger:innen eine Stimme geben
Veliko Gradište, eine Kleinstadt im Osten Serbiens. Etwa 20’000 Menschen leben hier. Auf einem kleinen Spielplatz am Rand der Stadt sitzen Dujan Stojković und Živosav Simić, ein pensionierter Forstarbeiter und ein Dorfschullehrer. «Dieser Spielplatz wurde auf unsere Initiative hin gebaut», sagen die beiden Männer stolz. Sie sind Gründer der Roma-Vereinigung «Rom», die die 3500 Roma in der Gemeinde vertritt und massgeblich dazu beiträgt, dass sie hervorragend integriert sind, was an anderen Orten in Serbien nicht der Fall ist.
Den Vorschlag, diesen Spielplatz zu bauen, haben sie im vergangenen Jahr in der Gemeindeversammlung eingebracht, an der Bürgerinnen und Bürger auch über andere Initiativen berieten. Auch das keine Selbstverständlichkeit für Serbien: Denn obwohl gesetzlich dazu verpflichtet, beziehen viele Gemeinden, oft auch mangels Erfahrung, ihre Bürger: innen kaum oder gar nicht in Entscheidungsprozesse ein.

Deshalb hat Serbiens Regierung im Rahmen von internationalen Abkommen die Schweiz mit ihrer Erfahrung in der direkten Demokratie gebeten, die Mitsprache der Bevölkerung in serbischen Gemeinden zu stärken. Im Auftrag der Deza begleiten einheimische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Helvetas Angestellte von 15 Gemeinden in diesem Prozess.
In einer ersten Phase unterstützte Helvetas die Gemeinden dabei, die ihnen per Gesetz zustehenden Grund- und Gewerbesteuern wirksam einzuziehen – etwas, was bis dahin viele Gemeinden aus Mangel an Wissen und Mitteln nicht gemacht hatten. «Damit haben viele Kommunen ihre wirtschaftliche Situation in kurzer Zeit massiv verbessert», sagt Melina Papageorgiou, die bei der Deza zuständig ist für die Beratung von lokalen Behörden in der Region. In einem zweiten Schritt ging es darum, den Bürgerinnen und Bürgern für die höheren Lasten auch «etwas zurückzugeben», wie es Melina ausdrückt.

Konkret heisst das: Die Bevölkerung bestimmt jetzt mit, was mit den eingenommenen Steuergeldern geschehen soll. In zahlreichen Informationsveranstaltungen haben die Helvetas-Mitarbeitenden den Bürgerinnen und Bürgern, die solche direktdemokratischen Mitspracherechte nicht kannten, gezeigt, wie sie sich als Einzelpersonen oder als Vereinigungen einbringen können.
Der Erfolg lässt sich sehen: Allein letztes Jahr wurden 146 Vorschläge aus der Bevölkerung unterstützt. In Veliko Gradište wurden in den letzten Jahren auf Anregung der Bürger:innen Strassen ausgebaut, Sitzbänke aufgestellt und Parkanlagen gestaltet. Und am Rand der Stadt, wo vor allem Roma wohnen, steht jetzt der von Dujan und Živosav initiierte Spielplatz.
Patrick Rohr ist freier Fotojournalist und Botschafter von Helvetas. In dieser Rolle besucht er immer wieder Projekte von Helvetas und berichtet darüber nicht nur in den Helvetas-Medien, sondern auch in Reportagen für die «Schweiz am Wochenende» und andere Zeitungen.