Indian workers use boats to remove sand from the River Yamuna in Allahabad on March 16, 2018.  | © KEYSTONE/AFP/SANJAY KANOJIA

Verantwortungslose Sandindustrie

Eine nachhaltige Sandbewirtschaftung braucht Regeln
VON: Geert van Dok - 22. Oktober 2021
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Sand ist einer unserer wichtigsten Rohstoffe. Doch in vielen Regionen ist sein Abbau so gut wie gar nicht reguliert; Sandmafia-Organisationen schrecken beim illegalen Abbau auch nicht vor Gewalt zurück. Zum Schutz der Küsten, Flussläufe und Ozeane sowie der dortigen Bevölkerung braucht es weltweit einheitliche Nachhaltigkeitsregeln für Abbau, Handel und Nutzung von Sand.

Sand ist nach Wasser der am häufigsten gehandelte Rohstoff. Ohne Sand geht nichts, weder im Bauwesen noch beispielsweise in der Auto-, Kosmetik- oder Reinigungsmittelindustrie. Ohne Sand gäbe es kein Beton, kein Asphalt, kein Glas. Aus ihm wird Silizium für die Chips der Mobiltelefone gewonnen. Gerade Bauwerke benötigen riesige Sandmengen: Für ein mittelgrosses Einfamilienhaus braucht es 200 Tonnen Sand, jeder Kilometer Autobahn verschlingt im Schnitt 30'000 Tonnen und jedes Atomkraftwerk 12 Millionen Tonnen. Der jährliche weltweite Verbrauch liegt bei bis zu 50 Milliarden Tonnen. Spitzenreiter sind China, Indien und die USA. Gemessen an ihrer Bevölkerung allerdings verbrauchen Stadtstaaten wie Singapur und einzelne Golfstaaten am meisten.

Unendliche Nutzung eines endlichen Rohstoffs

Das alles wäre kein Problem, gäbe es genügend geeigneten Sand. Doch Sand ist schon heute ein knappes Gut. Denn die riesigen Sandmengen der Wüsten täuschen: So wie salzhaltiges Wasser der Ozeane für die Trinkwasserversorgung nutzlos ist, so ist Wüstensand als Baumaterial ungeeignet, da seine Körner zu fein sind. Für das Bauwesen braucht es mittelkörnigen und Grobsand mit einer gezackten, kantigen Oberfläche, so wie sie vom Wasser geformt wird. Nur dieser verfügt über die nötige Oberflächenstruktur, um Beton stabil zu machen. Dieser Sand kommt überall vor, in Flussbetten und Seen, an Stränden, am Meeresgrund und in unterirdischen Depots, nicht aber in der Wüste – und nicht immer dort, wo er besonders nachgefragt ist.

Golfstaaten importieren für ihre Wolkenkratzer im grossen Umfang Sand aus Kanada und Australien. Gleichzeitig werden riesige Mengen vom Grund des Persischen Golfs gebaggert, beispielsweise rund 150 Millionen Tonnen für die künstlich angelegten Inselgruppen Palm Islands in Dubai. Die 500 Millionen Tonnen Sand, die Singapur seit den 1960er Jahren für die Erweiterung seiner Landfläche mit künstlichen Inseln benötigte, importierte es vor allem aus Indonesien, Vietnam und Kambodscha. Da diese Länder den Sandexport vorübergehend verboten, wurde der Sand illegal abgebaut und geschmuggelt – und wird es weiterhin. In vielen Schwellen- und Entwicklungsländern bleiben Verbote praktisch wirkungslos, solange reiche Staaten bereit sind, enorme Summen für etwas zu zahlen, das kostenlos an den eigenen Stränden herumliegt.

Sand-Mafia: Illegaler Abbau und Handel

Der weltweite Handel mit Sand hatte 2017 einen Wert von 4,5 Milliarden Dollar, mit einem jährlichen Wachstum von 5,5 Prozent. Der Branchenverband Global Aggregates Information Network geht von einer Steigerung der jährlichen Gesamtnachfrage nach Sand und Zuschlagstoffen auf 60 Milliarden Tonnen bis 2030 aus. Dabei ist das globale Geschäft mit Sand weitgehend intransparent. Vielerorts sind Abbau und Handel in den Händen einer sogenannten «Sandmafia», die sich weder um gesetzliche Vorschriften noch um Umweltzerstörungen und die davon betroffene Bevölkerung schert. Sie schrecken auch nicht vor Kinderarbeit zurück und werden dafür nur selten zur Rechenschaft gezogen.

In Marokko stammt die Hälfte des jährlich benötigten Sands – etwa 14 Millionen Tonnen – aus der illegalen Sandgewinnung an der Küste. Vielerorts haben Sandschmuggler Strände in eine Felsenlandschaft verwandelt. Als Folge sind die Küstenbewohnerinnen und -bewohner den Gezeiten und Stürmen zunehmend schutzlos ausgeliefert. Der Sand der Strände wird für den Bau von Hotels, Zweitwohnungen, Strassen und touristische Infrastrukturen verwendet. Per Dekret wollte die Regierung im November 2017 einem Gesetz Nachdruck verleihen, das die Entnahme von Sand der Küstendünen verbietet, um das biologische und ökologische Gleichgewicht an den Küsten zu erhalten. Trotz der Androhung mehrjähriger Haftstrafen erweist sich das Gesetz als weitgehend wirkungslos. Die Ironie des Ganzen: Der Raubbau zerstört die Strände und damit eine der touristischen Hauptattraktionen des Landes, denen die Bauten eigentlich dienen sollen.

In Indien baut eine Sandmafia, geduldet von Politik und Verwaltung, illegal Sandbänke ab und schreckt dabei auch nicht vor Gewalt zurück. Journalisten, die über die kriminellen Geschäfte berichten, werden regelmässig bedroht und – wie im Falle von Jagendra Singh – umgebracht. Der Journalist hatte 2015 einen lokalen Minister beschuldigt, für den illegalen Sandabbau im Bundestaat Uttar Pradesh verantwortlich zu sein. Jagendra Singh wurde mit Benzin attackiert und lebendig verbrannt.

Die grössten Sandressourcen finden sich in Flüssen und Ozeanen. Rund 20 Milliarden Tonnen Sand transportieren die Flüsse jährlich an die Küsten. Dabei gelangt nur die Hälfte des Sands aus den Gebirgen bis zum Meer, die andere Hälfte wird direkt an Flussufern oder Flussbetten abgebaut oder von Staudämmen aufgehalten. Gerade die grossen Flüsse Asiens werden systematisch ausgebaggert, mit weitreichenden Folgen für die biologische Verfalt und die Ökosysteme im Wasser und an Land. Wird Sand vom Meeresgrund abgesaugt und von Küsten abgegraben, werden Mikroorganismen und Tiere getötet, Lebensräume zerstört, verändern sich Strömungen. Das gefährdet die Existenzgrundlage der Menschen, die vom Meer leben. Je mehr Sand vom Meeresboden gesaugt wird, umso mehr Sand rutscht von den Küsten und Stränden nach. Schätzungen der UNEP zufolge sind drei von vier Strände im Verschwinden begriffen. Ein Landverlust, der vielerorts die armutsbetroffene Bevölkerung trifft.

Ansätze eines nachhaltigen Sandmanagements

Trotz dieser bedrohlichen Entwicklungen und vielfältigen Missstände waren die ökologischen und gesellschaftlichen Folgen der Sandwirtschaft für die internationale Gemeinschaft bis vor kurzem kein Thema. So erwähnt die UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung von 2015 den Rohstoff Sand mit keinem Wort. Erst mit dem 2019 veröffentlichten Bericht «Sand and Sustainability» («Sand und Nachhaltigkeit») des UNO-Umweltprogramms (UNEP) kam das Thema auf die internationale politische Agenda. Er verweist darauf, dass sich die Nachfrage nach Sand durch veränderte Verbrauchsmuster, Bevölkerungswachstum, zunehmende Verstädterung und Infrastrukturentwicklung in den letzten 20 Jahren verdreifacht hat, und sucht nach Antworten für die vielfältigen Herausforderungen.

Der Bericht benennt Kernpunkte für eine nachhaltige Bewirtschaftung der weltweiten Sandressourcen. Um die Schäden an Fluss-, Strand- und Meeresökosystemen und damit auch die gesellschaftlichen Risiken in Sandabbaustätten zu vermeiden, empfehlen die Autorinnen und Autoren, den Verbrauch von Sand und Kies durch effizientere Infrastruktur- und Bauplanung zu verringern sowie nach Möglichkeit rezyklierte und alternative Baumaterialien einzusetzen, zum Beispiel nachwachsende Baustoffe, nach denen seit längerem geforscht wird. Gleichzeitig sollen bestehende Standards und bewährte Praktiken, wie sie bei anderen Rohstoffen Anwendung finden, an die jeweiligen nationalen Gegebenheiten angepasst und durchgesetzt werden. Dies würde die unverantwortliche und illegale Gewinnung von Sand zumindest eindämmen. Zusätzlich braucht es Investitionen in die Messung, Überwachung und Planung der Sandgewinnung und des Sandverbrauchs. Schliesslich gilt es, die fragmentierte und vielerorts stark informell geprägte Sandindustrie auf gemeinsame Nachhaltigkeitsregeln zu verpflichten. Dies verlangt einen auf Transparenz und Rechenschaftspflicht basierenden Dialog zwischen den wichtigsten Akteuren und Interessengruppen in der Sandwertschöpfungskette.

Es würde der Schweiz gut anstehen, sich beim Aufbau und der Etablierung des genannten Dialogs aktiv einzubringen. Denn auch wenn sie selbst noch lange über genügend Sand verfügen wird, sollte es in ihrem Interesse sein, dass für die Sandindustrie in Zukunft weltweit die gleichen verbindlichen Nachhaltigkeitsregeln und -praktiken gelten. Zudem hat die Schweiz sich in ihrer Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 unter anderem verpflichtet, auch international «Programme zur Förderung von nachhaltigen Konsum- und Produktionsmustern» zu unterstützen und «Wohlstand und Wohlergehen unter Schonung der natürlichen Ressourcen zu sichern» (Kap. 4.1.1-2). Hier hat sie die Gelegenheit dazu.