Landwirtschaft | © Orto Loco

Die Zukunft liegt in unserem Teller

Parlamentarisches Powerplay gegen eine nachhaltige Ernährung
VON: Eva Schmassmann, Patrik Berlinger - 31. März 2023
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Das schweizerische Ernährungssystem muss umgebaut werden, will die Schweiz ihren vollen Beitrag zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung leisten und das Pariser Klimaabkommen einhalten. Es geht um Artenvielfalt und Klimaschutz ebenso wie um würdige Arbeit und die Gesundheit der Menschen. Während der Bundesrat den Horizont 2050 anpeilt, fordern die Fakten rasches Handeln bis 2030. Wissenschaft und Zivilgesellschaft weisen den Weg. 

Nach polarisierenden Volksinitiativen, die auf eine Ökologisierung der Landwirtschaft abzielten, und der Sistierung der neuen Agrarpolitik ab 2022 (AP22+) im Parlament im Frühjahr 2021, schien die Landwirtschaftspolitik in der Schweiz still zu stehen. Nicht so die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft, die beide neue Impulse für eine nachhaltige Ernährungspolitik erarbeiteten. 

Diese wurden am 2. Februar am ersten Ernährungssystemgipfel der Schweiz präsentiert. Ziel war es, Lösungsvorschläge zu diskutieren, die den Weg in eine ökologisch tragfähige und sozialverträgliche Ernährungszukunft weisen. Hinlänglich bekannt ist, dass das gegenwärtige Ernährungssystem weltweit rund 30 Prozent der Treibhausgasemissionen verursacht und für das dramatische Schwinden der Artenvielfalt entscheidend mitverantwortlich ist. 

Der Fokus wurde bewusst weg von der Landwirtschaft hin auf das Ernährungssystem verlegt. Denn nicht nur Landwirtinnen und Landwirte müssen sorgsam mit Boden, Wasser und Luft umgehen, sondern alle Involvierten: von Anbau über Verarbeitung und Vertrieb bis zum Konsum. Der erweiterte Fokus und systemische Ansatz stehen dabei über weite Strecken im Einklang mit der langfristigen Strategie des Bundesrats für die Landwirtschaft, der «zukünftigen Ausrichtung der Agrarpolitik» bis 2050. Ausser beim Tempo. 

Interdisziplinäres Wissenschaftsgremium

Im Zentrum des Ernährungssystemgipfels stand der Leitfaden «Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz», der von einem interdisziplinären wissenschaftlichen Gremium – bestehend aus über vierzig Forscherinnen und Forschern führender Institutionen der Schweiz – präsentiert wurde. Das Fazit:  Mit seiner Langfristvision bis 2050 ziele der Bundesrat zwar in die richtige Richtung. Das Ernährungssystem müsse aber – angesichts der Klimakrise und des gegenwärtigen Artenschwunds – bereits bis 2030 und nach agrarökologischen Prinzipien umgebaut werden. Und obwohl die Schweiz ein kleines Land sei, könne sie substanziell zum globalen Wandel beitragen. Was bisher getan werde, reiche nicht aus und geschehe zu langsam. 

Der Leitfaden enthält elf messbare Ziele. Diese betreffen soziale Themen wie existenzsichernde Einkommen für Bäuerinnen und Bauern. Sie drehen sich um Gesundheitsrisiken in der Landwirtschaft und Kinderarbeit entlang von Lieferketten. Sie beinhalten ökologische Themen wie Gülleeinsatz und Pestizide, Bodennutzung und Wasserverbrauch, klimawirksame Emissionen und die Artenvielfalt.  

Konkret rät die Wissenschaft z.B. zu deutlich mehr Gemüse aus standortangepasster, lokaler und saisonaler Produktion, deutlich weniger verarbeiteten Milchprodukten sowie deutlich weniger Fleisch und Süssgetränken. Weil rund ein Viertel der Umweltbelastung aus der Schweizer Ernährung durch Food Waste entstehe, sollten die vermeidbaren Lebensmittelabfälle und -verluste bis 2030 halbiert werden. 

Bürger:innenrat für Ernährungspolitik

Nebst der Analyse und den Zielen, die bis 2030 erreicht werden müssten, zeigt das Wissenschaftsgremium einen konkreten politischen Handlungspfad auf, wie die Schweiz den Wandel in die skizzierte Ernährungszukunft bewerkstelligen kann: Mit Investitionen in Information und Weiterbildung, mit positiven Anreizen für nachhaltige Produkte, mit zunehmend regulatorischen Massnahmen sowie Lenkungsabgaben, um die Kostenwahrheit zu fördern. Mit Anpassungen bei den Direktzahlungen sowie verstärkten Sorgfaltspflichten von Lebensmittelkonzernen. Weiter schlägt das Wissenschaftsgremium vor, eine «Zukunftskommission Ernährungssystem» einzurichten. Diese soll die Verhandlungsprozesse zwischen den zentralen Akteur:innen entlang der Wertschöpfungsketten beschleunigen und in vertraulichem Rahmen ermöglichen. Um die Bevölkerung nicht zu überfordern, soll diese regelmässig mittels neuer Verfahren miteinbezogen werden.  

Nicht nur die Wissenschaft, auch die Zivilgesellschaft präsentierte ihre Impulse für eine gesunde Ernährungszukunft. Sie kamen aus dem Bürger:innenrat für Ernährungspolitik, der von den Bundesämtern für Landwirtschaft, für Lebensmittelsicherheit und für Umwelt begleitet und finanziell unterstützt worden war und konkrete Empfehlungen ausgearbeitet hatte.  

Mit einem im vergangenen Jahr einberufenen Bürger:innenrat zeigte die Zivilgesellschaft, wie auf innovative Weise, sowie mittels moderierter Diskussionen und eines deliberativen Prozesses breit abgestützte und konkrete Lösungsvorschläge erarbeitet werden können: 80 in der Schweiz wohnhafte, zufällig ausgewählte Menschen, welche die Schweizer Wohnbevölkerung repräsentativ abbilden, berieten über sechs Monate hinweg in elf Treffen gemeinsam über eine umfassende und nachhaltige Ernährungspolitik. Zur Meinungsbildung erhielten die Teilnehmenden Informationen von Wissenschaftler:innen und Fachexpert:innen, und hörten Vorträge der relevanten Verbände, Allianzen und Interessengruppen im schweizerischen Ernährungsbereich. Der abschliessende Ernährungssystemgipfel machte deutlich: Die Handlungsempfehlungen von Wissenschaft und Bürger:innenrat stimmen vielerorts überein. 

Wandel in der Ernährung gesamthaft angehen

Die Beiträge und Diskussionen am Ernährungssystemgipfel zeigten klar auf, dass es einen Gesamtblick auf die Ernährungspolitik braucht: Einzelne Massnahmen produzieren Verlierer:innen und Gewinner:innen. Eine gerechte Transformation muss es schaffen, den potenziellen Verlierer:innen Perspektiven aufzuzeigen, so dass auch sie eine sinnstiftende Zukunft sehen. Beispielsweise bedroht eine vermehrt pflanzliche Ernährung Landwirtinnen und Landwirte, die ihre Existenz auf Fleisch- und Milchproduktion aufgebaut haben. Was sind hier einkommenssichernde Perspektiven? Welche Aus- und Weiterbildungsprogramme braucht es? Wie müssen Förderprogramme zur Betriebsumstellung ausgestaltet werden? 

Die Beiträge am Gipfel haben auch gezeigt, dass unser Ernährungs-Fussabdruck in hohem Mass andere Länder belastet: Beinahe 70 Prozent unserer Treibhausgasemissionen fallen im Ausland an. Jedes Jahr werden z.B. grosse Waldflächen für Futtermittelanbau gerodet, bisweilen in besonders artenreichen Gebieten. Gleichzeitig leiden weltweit über 800 Millionen Menschen Hunger und zwei Milliarden haben zeitweise nicht ausreichend Zugang zu gesundem und nahrhaftem Essen. Es stellen sich daher weitere Fragen: Welche Auswirkungen haben unsere Essgewohnheiten und unser Nahrungsmittelkonsum im Ausland? Wie können wir hier ein Ernährungssystem schaffen, das gleichzeitig positive Effekte auf andere Länder hat und die Ernährungssicherheit der ärmsten Menschen weltweit verbessert? 

Parlament ignoriert die Ergebnisse des Ernährungssystemgipfels

Nachdem die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft am Ernährungssystemgipfel ihre Handlungsempfehlungen Bundesrat Parmelin und den im Parlament vertretenen Parteien übergeben haben, liegt der Ball nun bei der institutionellen Politik, eine gerechte und weltverträgliche Ernährungspolitik auszuarbeiten. Weiter wie bisher ist keine Option. Je rascher wir in der Schweiz nachhaltige Veränderungen anstossen, desto besser, denn die planetaren Grenzen sind über Mass ausgeschöpft. 

Angesichts der gefühlten Einigkeit und des positiven Geistes am Ernährungssystemgipfel war die parlamentarische Debatte zur künftigen Landwirtschafts- und Ernährungspolitik in der Frühjahrssession, die Mitte März zu Ende ging, ernüchternd: Weder der Leitfaden des Wissenschaftsgremiums und die Empfehlungen des Bürger:innenrates noch die Diskussionen am Ernährungsgipfel in Bern schienen das Parlament zu beeindrucken. Mit vereinten Kräften wusste die konservative, liberale und christliche Parlamentsmehrheit für die kommenden sieben Jahre weitgehend den agrar- und ernährungspolitischen Status Quo zu verteidigen mit den bekannten Fehlanreizen im Umwelt- und Tierwohlbereich. Und sie orientierte sich dabei an den mutlosen Beschlüssen des Ständerates, der die Landwirtschaftsvorlage bereits im Dezember behandelt hatte. 

Vergeblich versuchten SP, Grüne und GLP mit 19 Minderheitsanträgen korrigierend einzuwirken. Weder fanden ein verbindlicher Absenkpfad für klimawirksame Treibhausgase in der Landwirtschaft oder ein Ausbau des Tierwohls noch eine Absatzförderung für nachhaltige, biologische und tierfreundliche Produktion eine Mehrheit. Mit dem neuesten Aufruf des Weltklimarats lässt sich dieser Entscheid nicht in Einklang bringen. Das Zeitfenster für die Sicherung einer lebenswerten und nachhaltigen Zukunft schliesst sich rasch. Wissenschaft und Zivilgesellschaft sind also weiterhin gefordert, Impulse zu geben und das Thema rasch wieder auf die politische Agenda zu setzen. 

 

* Eva Schmassmann ist Geschäftsführerin der zivilgesellschaftlichen Plattform Agenda 2030.

 

Von der Landwirtschaft zum Ernährungssystem 

Der Ernährungssystemgipfel bildete den Abschluss der nationalen Dialoge zur Ernährungszukunft der Schweiz im Rahmen der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 (SNE 2030) des Bundesrates. Die Dialoge führten die zwischenstaatlichen Verhandlungen des UNO-Ernährungssystemgipfels aus dem Jahr 2021 fort. Sowohl der Welt-Ernährungssystemgipfel als auch die SNE 2030 sehen eine sozial-ökologische Transformation unseres Ernährungssystems vor. 

Begleitet wurden die nationalen Dialoge von der breit abgestützten Partnerschaft «Ernährungszukunft Schweiz» und den Bundesämtern für Landwirtschaft (BLW), für Lebensmittelsicherheit (BLV) und für Umwelt (BAFU). Hinter «Ernährungszukunft Schweiz» stehen das Netzwerk für Nachhaltigkeitslösungen (SDSN Schweiz), Landwirtschaft mit Zukunft (LmZ) sowie die Stiftung Biovision.  

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation