SCHWEIZ KLIMASCHUTZ AKTION "RISE UP FOR CHANGE" | © KEYSTONE/Anthony Anex

Das Klima kümmert sich nicht um Politik

Das Zögern in der Klimapolitik schadet allen
VON: Geert van Dok - 20. August 2021
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Die weltweiten Wetterextreme machen deutlich, dass Zögern beim Klimaschutz keine Option ist. Nur mit einer wirklich konsequenten und wirklich ambitionierten Klimapolitik lässt sich die Klimaerwärmung in den kommenden Jahrzehnten einigermassen bewältigen, wenn auch nicht rückgängig machen. Ein nächster wichtiger Schritt wäre die Zustimmung zur Gletscher-Initiative.

Gross war die Konsternation, als das CO2-Gesetz am 13. Juni versenkt wurde. Eine knappe Mehrheit von rund 100'000 Wahlberechtigten verpasste Parlament, Verwaltung, NGOS und vielen Unternehmen eine schallende klimapolitische Ohrfeige. Wie das geschehen konnte, darüber wurde heftig gestritten.

Man habe zu viel auf einmal gewollt, meinten viele. Andere machten in ihrer Enttäuschung die «Klimajugend» als eine der Hauptschuldigen aus, hatte diese doch mit ihren Aktionen keinen Zweifel daran gelassen, dass für sie die vorgesehenen Gesetzesbestimmungen viel zu wenig weit gingen. Doch nicht sie war es, die das Gesetz zu Fall brachte. Gemäss Vox-Analyse stieg der Nein-Anteil mit steigendem Alter deutlich an: «Jüngere haben mehrheitlich Ja gestimmt, auch weil Jüngere im Vergleich zu Älteren den Umweltschutz höher gewichten als den Wohlstand.»

Unwetter und Waldbrände

Die jüngsten Wetterereignisse und Klimaberichte geben der Klimajugend mit ihrer Skepsis gegenüber dem Gesetzesvorschlag recht. Fast könnte man sagen, das Scheitern an der Urne habe auch sein Gutes. Eine Annahme hätte Politik und Verwaltung wohl dazu verleitet, sich mit dem Gefühl zurückzulehnen, man habe seine Aufgaben gemacht. Das geht nun nicht mehr – und es braucht weit mehr als halbherzige Massnahmen. Die Klimaerwärmung findet statt und ihre Folgen werden immer bedrohlicher. Dafür genügt der Blick nach Deutschland, wo sintflutartige Regenfälle Tod und Verwüstungen brachten. Oder ein Blick nach Südeuropa, wo Feuersbrünste vielerorts wertvolle Wälder zerstören. Auch im Schweizer Seeland haben Überschwemmungen einen grossen Teil der Gemüseernten vernichtet.

Europa nahm und nimmt die Unwetterkapriolen und Katastrophen empört zur Kenntnis; die Halbwertszeit dieser Empörung dürfte aber kurz sein. Sei es wegen anstehender Wahlen und wirtschaftlichen Interessen, oder einfach, weil die politischen Verantwortungsträger vor lauter Hilflosigkeit und mangels Mut für konkrete Massnahmen vor der schleichenden, meist unsichtbaren und nicht aufzuhaltenden Klimaerwärmung kapituliert haben. Sobald die Schäden weggeräumt sind, gehen sie lieber wieder zur gewohnten Tagesordnung über.

Auftauender Permafrost und schmelzende Gletscher

Dabei sind die genannten Beispiele eher Vorboten des Klimawandels, die noch einigermassen bewältigt werden können. Deutlich bedrohlicher ist das weltweit zu beobachtende Auftauen des Permafrosts, das weitgehend irreversibel ist. In Sibirien geschieht es als Folge riesiger Brände, bei denen das Feuer bis jetzt nicht nur über 500 Megatonnen CO2 direkt freigesetzt hat, sondern auch den Boden auftauen liess. Dadurch konnten grosse Mengen Methan entweichen, die bis anhin im Eis eingeschlossen waren. Auch in Kanada und in Alaska taut der Permafrost schrittweise auf. Besonders verheerend sind dabei die Schwelbrände in den Torfböden der subarktischen Regionen, die im Sommer entstehen und im Winter unter Schnee und angefrorenem Boden weiterbrennen und sich ausdehnen, bis sie im Sommer darauf wieder ausbrechen. Doch auch in der Schweiz wachsen die Sorgen wegen der zunehmenden Instabilität des Permafrosts. Berghänge und die Infrastruktur des Wintersports geraten ins Rutschen, Murgänge drohen und Berggemeinden wie Kandersteg sehen sich wachsenden Gefahren ausgesetzt.

Besorgniserregend ist weiter das Schmelzen des Polareises und der Gletscher. Folge ist nicht nur der Anstieg des Meeresspiegels von bis zu 1,5 Meter bis Ende dieses Jahrhunderts. Im Himalaya und Hindukusch schmelzen ein Drittel der Gletscher rapide, was die Wasserversorgung von knapp zwei Milliarden Menschen gefährdet – und sollten die Pariser Klimaziele nicht erreicht werden, dürften gar zwei Drittel der dortigen Gletscher verschwinden. Auch in den Alpen gehen die Gletscher zurück. Das Bundesamt für Umwelt schreibt denn auch, es werde in der Schweiz künftig trockener, heisser und schneeärmer, und stellt fest: «Im Wasserschloss wird es ungemütlich».

Dass der Weltklimarat mit seinem neuesten Bericht auch nicht beruhigen würde, war absehbar: Er zeigt auf, dass die Welt derzeit auf eine Erwärmung von mindestens 3 Grad Celsius bis ins Jahr 2100 zusteuert. Dies liesse sich noch reduzieren, sofern alle Staaten und Menschen ab sofort und konsequent viel weniger CO2 und andere Treibhausgase in die Atmosphäre freisetzen würden – sehr viel weniger. Spätestens 2050 müssten weltweit Netto-Null-Emissionen erreicht sein, am besten aber schon deutlich früher. Nur so könnten sich die globalen Temperaturen in 20 bis 30 Jahren stabilisieren, im besten Fall sogar langfristig wieder leicht sinken. Andernfalls bleibt das beschlossene Pariser Begrenzungsziel auf 1,5 oder selbst 2 Grad Celsius unerreichbar.

Das Hoffen auf die Forschung und die Wirtschaft

Bürgerliche Politikerinnen und Politiker setzen in der Klimapolitik auf die Eigenverantwortung und Innovationskraft von Menschen und Unternehmen, auf liberale Rahmenbedingungen und funktionierende Märkte, und nicht auf Regulierung. «Somit ist eine liberale Umweltpolitik auch Wirtschaftspolitik», wie die FDP in ihrem Positionspapier zur Klimapolitik schreibt. Im Zentrum steht die Hoffnung auf technische Auswege zur Reduktion von CO2, damit im Alltag der Menschen möglichst wenig ändern muss.

Ideen gibt es viele: So wollen Schweizer Abfallverbrenner ausgestossenes CO2 künftig nach Norwegen transportieren, um es vor dessen Küste in Gas- und Öllagerstätten unter dem Meeresgrund zu entsorgen. Ein anderer Strohhalm ist die Herstellung von Pflanzenkohle, die dann in den Boden eingebracht wird. Auch hofft man, Treibhausgas in geologischen Gesteinsschichten einzulagern. Laut der ETH-Klimaforscherin Sonia Seneviratne brächte das alles aber nicht viel, denn die Mengen an CO2, die man derzeit mit Aufforstung oder technischen Methoden extrahieren könne, seien zu begrenzt, um etwas zu bewirken. Ausserdem muss bezweifelt werden, dass die Zeit noch ausreicht, um die nötigen, aber noch nicht vorhandenen technischen Innovationen zu entwickeln.

«Der Klimawandel ist das grösste Versagen des Marktes, das die Welt je gesehen hat», stellte der ehemalige Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern schon vor 15 Jahren in seinem vielbeachteten «Stern-Report» fest. An dieser Einschätzung hat sich nichts geändert. Im Report nahm Stern eine vorsichtige Schätzung der Gesamtkosten und -risiken des Klimawandels vor, sofern nicht gehandelt wird. Er bezifferte die Verluste auf mindestens fünf Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts (BSP), «jedes Jahr, jetzt und für immer». Das waren damals 2,5 Billionen US-Dollar pro Jahr. Die Kosten des Handelns (CO2-Reduktion und Anpassung) taxierte er auf etwa ein Prozent.

Die Gletscher-Initiative als Chance

In nächster Zeit wird die Schweiz erneut die Möglichkeit haben, klimapolitische Pflöcke einzuschlagen: Die im November 2019 eingereichte Gletscher-Initiative verlangt Netto-Null Emissionen sowie ein Verbot fossiler Energieträger wie Heizöl, Benzin und Kohle bis 2050. Damit wäre die Schweiz noch einigermassen im Zeitplan, wie er im Bericht des Weltklimarats vorgegeben wird.

Dass der Bundesrat die Initiative ablehnen würde, war längst bekannt. Nun hat er am 11. August einen direkten Gegenentwurf vorgelegt. Darin bestätigt er das langfristige Netto-Null-Ziel bis 2050. Ein Verbot fossiler Energieträger hingegen lehnt er ab: «Das geht dem Bundesrat zu weit», sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga an der Medienkonferenz kurz und bündig. Wenig erstaunlich. Dumm nur, dass der Klimawandel nicht auf innenpolitische Befindlichkeiten Rücksicht nimmt und beharrlich voranschreitet.