Guatemala Julia Rodriguez und Julina Gonzales mit Tochter | © Simon b. Opladen

Die DEZA verlässt Lateinamerika

Der Abzug der Entwicklungszusammenarbeit macht Erfolge zunichte
VON: Geert van Dok - 11. September 2020
© Simon b. Opladen

Der Bundesrat will die Entwicklungszusammenarbeit geografisch bündeln. Und weil er in Lateinamerika «eine merkliche Reduktion der Armut und eine Verbesserung der Grundversorgung» erkannt haben will, plant er, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in dieser Region zu beenden. Doch erstens sind Armutszahlen trügerisch und zweitens zielt Entwicklungszusammenarbeit auch auf Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und gute Regierungsführung. Dieses Engagement leichtfertig aufs Spiel zu setzen, ist fahrlässig.

Die Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2021-2024 ist auf der parlamentarischen Zielgeraden. Am 15. September wird der Ständerat als Zweitrat darüber befinden und ihr sicherlich zustimmen. Während die Debatte in den Kommissionen und im Nationalrat wenig emotional war, ging es im Vorfeld umso hitziger zu, nachdem Ende 2018 bekannt geworden war, dass Bundesrat Cassis den Rückzug der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit aus den bisherigen Schwerpunktländern Haiti, Bolivien, Honduras, Nicaragua und Kuba plante. Begründet wurde dies unter anderem mit der von der OECD geforderten Fokussierung, aber auch mit dem Umstand, dass die Armut in der Region weitgehend überwunden sei.

Der Streit um den Rückzug

Zivilgesellschaftliche und politische Kräfte, die sich seit jeher mit Lateinamerika verbunden fühlen, wehrten sich vehement gegen die Pläne, allen voran die Zentralamerika- und die Haiti-Plattform, bei welchen Helvetas Mitglied ist. Allerdings zeigte das im Sommer 2019 durchgeführte Vernehmlassungsverfahren, dass die Schweizer Zivilgesellschaft in dieser Frage uneinig ist: Von den 115 NGOs, Vereinen und Stiftungen, die Stellung genommen hatten, sprachen sich 15 Prozent für und 15 Prozent gegen den Rückzug aus, 30 Prozent forderten Anpassungen und 40 Prozent äusserten sich gar nicht zu Lateinamerika.

Angesichts dieser Heterogenität und weil «die Kantone und die politischen Parteien mit dem Grundsatz der geografischen Fokussierung einverstanden waren», wie der Bundesrat in seiner Botschaft an das Parlament festhielt, war klar, dass Bundesrat Cassis seinen Rückzugsplan nicht ändern würde. Sowohl die Aussenpolitischen Kommissionen (APK) als auch der Nationalrat in der Sommersession 2020 stimmten der vorgeschlagenen Strategie grossmehrheitlich zu. Als letzte Möglichkeit, das bilaterale Engagement der DEZA in dieser Region doch noch weiterzuführen, bleibt die Motion «Absicherung der bisherigen Erfolge der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Zentralamerika und der Karibik» der APK des Nationalrats, die am 21. September im Nationalrat behandelt wird. Sie verlangt, dass die Schweiz mittels «punktueller Fortführung der Entwicklungszusammenarbeit» weiterhin Menschenrechte, gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit in der Region fördern soll.

Armut und fragile Staatlichkeit

Der Widerstand gegen den Rückzug hat seine Gründe: Die aktuellen Schwerpunktländer der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) gehören zu den ärmsten in der Region. Wenn man Kuba ausblendet, zu dem keine Armutszahlen vorliegen, leben gemäss der Weltbank-Datenbank von den 38 Millionen Menschen in Haiti, Bolivien, Honduras und Nicaragua über 42 Prozent (16,1 Mio.) unter der jeweils national festgelegten Armutsgrenze – und die Coronakrise wird die Zahlen deutlich ansteigen lassen. In Haiti sind es knapp 60 Prozent. Nimmt man die beiden diesbezüglich relevanten einkommensabhängigen Armutsgrenzen der Weltbank, sind in Haiti (1,90 US-Dollar pro Person und Tag) ein Viertel und in den drei anderen Ländern (3,20 US-Dollar) knapp ein Fünftel der Bevölkerung von Armut betroffen. Der Rückzug aus diesen Ländern lässt sich angesichts dieser Daten nicht mit überwundener Armut rechtfertigen. «Extreme Armut» von 1,90 US-Dollar jedenfalls kann nicht das Mass aller Dinge sein.

Zudem gelten alle vier Länder als sehr fragil. Im Fragile States Index 2020 wird deren Situation als «sehr ernst» (elevated warning), im Falle Haitis gar als «alarmierend» (alert) eingestuft. Gerade in jüngster Zeit sind Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und Menschenrechte in der Region wieder enorm unter Druck geraten. Machtmissbrauch, Korruption, verbreitete Straflosigkeit und Gewalt sind die Hauptursachen von Armut, aber auch ein enormes Hindernis für eine nachhaltige Entwicklung. So hält die DEZA fest: «Nicaragua durchlebt aktuell eine schwerwiegende soziopolitische Krise mit gravierenden Auswirkungen auf die Menschenrechte aber auch auf die wirtschaftliche Situation. In Honduras stagniert die Armutsbekämpfung. Die Institutionen sind schwach und die Gewaltraten selbst für regionale Verhältnisse sehr hoch.» Hinzu kommt, dass Zentralamerika regelmässig von verheerenden Hurrikanen heimgesucht wird und weltweit als eine der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Regionen gilt, mit sich verstärkenden Extremen zwischen starken Regenfällen und langen Trockenperioden. Zusammengenommen verstärken diese Faktoren die Ungleichheit zwischen Ethnien, Gemeinschaften, Einkommensschichten und den weiter und weniger weit entwickelten Ländern.

Unverantwortlich wäre insbesondere ein Rückzug aus Haiti, dem einzigen «Least Developed Country» in der Region. Das Land ist nicht nur von Armut geprägt und äusserst fragil. Es nimmt ausserdem beim Human Development Index, der auf dem Bruttonationaleinkommen pro Kopf, der Lebenserwartung und der Dauer der Schulbildung fusst, gerade einmal Platz 169 von insgesamt 189 Staaten ein. Hinzu kommt, dass Haiti gemäss dem globalen Klima-Risiko-Index 2020 in den vergangenen 20 Jahren nach Puerto Rico und Myanmar am dritthäufigsten von Extremwetterereignissen betroffen war. Der Rückzug der Entwicklungszusammenarbeit aus Haiti würde ein Programm beenden, das zur Stärkung der Zivilgesellschaft, des Staates und der Privatwirtschaft beiträgt sowie eine inklusive und gerechte soziale und ökonomische Entwicklung fördert. Dies kann nicht im Interesse der Schweiz sein.

Die DEZA geht, das SECO bleibt

Wenn der Nationalrat also demnächst die genannte Motion zum Engagement in Zentralamerika und der Karibik diskutiert, ist er gut beraten, den gerade von der Zivilbevölkerung in diesen Ländern geschätzten Beitrag der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit nicht aufs Spiel zu setzen. Dieser trägt nachweislich zur Stabilisierung und zur schrittweisen Verbesserung der schwierigen Situation in den Ländern bei. Es gilt, den geplanten Rückzug zu verhindern.

Allerdings werden ab dem kommenden Jahr Fakten geschaffen: Die DEZA wird in den vier Jahren bis 2024 gerade einmal 1 Prozent der Mittel, die ihr für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stehen werden, in Lateinamerika einsetzen. Das sind CHF 26,5 Millionen. Noch in der letzten Strategieperiode 2017-2020 hatte der Bundesrat 15 Prozent für Lateinamerika vorgesehen, was rund 390 Millionen entsprach. Laut dem Umsetzungsschlussbericht für 2017-2020 hat die Schweiz tatsächlich 11 Prozent der Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit der DEZA in Lateinamerika eingesetzt.

So ändern sich die Zeiten – doch nicht für das SECO. Denn die geografische Fokussierung gilt nur für die DEZA. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) wird auch über 2024 hinaus mit seiner bilateralen wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika, konkret Peru und Kolumbien, präsent sein. Schliesslich führt es sein Engagement auch «unter Berücksichtigung der Interessen der Aussenwirtschaftspolitik der Schweiz» weiter. Es macht den Anschein, als sei dies dem Bundesrat wichtiger als ein Engagement für eine nachhaltige Entwicklung in Haiti und den ärmsten Ländern Zentralamerikas. Da besteht erheblicher Erklärungsbedarf.