Localizing Development Cooperation

Eine verstärkte Zusammenarbeit mit nationalen Akteuren und NGOs ist geboten
VON: Esther Marthaler, Patrik Berlinger - 22. Dezember 2023

Im Zuge der Decolonizing Aid-Debatte wachsen weltweit die Bestrebungen, national verankerte Entwicklung voranzutreiben. Diese «Lokalisierung» bietet die Chance, ärmeren Ländern und Gemeinschaften Entscheidungs- und Gestaltungskompetenzen in der Entwicklungszusammenarbeit zu übergeben. 

Im Globalen Norden, dazu gehört auch die Schweiz, ist ein kolonial geprägtes, dichotomes Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit noch immer weit verbreitet: Dort «im Süden» leben die meist dunkelhäutigen, vermeintlich selbstverschuldeten armen Menschen, die sich nicht aus eigener Kraft aus ihrem Elend befreien können. Hier «im Norden» die selbstlosen Helfer, die dank ihrem scheinbar überlegenen Wissen den Armen beistehen müssen. Um dieses falsche Verständnis bzw. diese schädliche Auffassung von Entwicklungszusammenarbeit zu korrigieren, wurde vor einigen Jahren die wichtige Debatte über die Dekolonialisierung von Entwicklungshilfe (Decolonizing Aid) lanciert. 

Die Diskussion zielt darauf ab, gängige Vorstellungen und etablierte Praktiken zu hinterfragen, ungleiche Machtstrukturen zwischen reichen und armen Ländern zu verändern – genauso wie auch innerhalb der verschiedenen Länder –, ungerechte Wirtschafts- und Handelsbeziehungen anzupassen und die ungleich dramatischeren Folgen der Klimakrise für ärmere Länder anzuerkennen und auszugleichen. Nach und nach soll die Definitions- und Entscheidungsmacht über (nachhaltige) Entwicklung und zukunftsfähige Politik ausbalanciert und stärker in den «Globalen Süden» verlagert werden.

Entwicklungszusammenarbeit «lokalisieren»

Die Dekolonialisierung von Entwicklung ist eng verknüpft mit der Absicht, die Entwicklungszusammenarbeit zu «lokalisieren» (Localizing Development Cooperation), wobei die Form der Kooperation zwischen den «westlichen Gebern» von Entwicklungsleistungen und den ärmeren «Entwicklungsländern» angepasst werden muss. Denn in der Zusammenarbeit zwischen «Gebern» und «Empfängern» fühlen sich nationale Akteure in vielen Fällen nach wie vor instrumentalisiert; Organisationen, die in vielen Bereichen – von der Stärkung der Menschenrechte über Korruptionsbekämpfung, Umweltschutz und Klimaanpassung bis zur Verbesserung von Bildung und Gesundheitsdienstleistungen – wichtige Arbeit vor Ort leisten.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen der internationalen Zusammenarbeit sind manchmal auch international tätige NGOs wie Helvetas in einer schwierigen Situation, wenn die Vorgaben grosser Geber sich unvorteilhaft für nationale Partner auswirken. 

Zivilgesellschaftliche Organisationen wie auch NGOs in den Projektländern monieren, dass die wichtigen Entscheide über die Art und Ausgestaltung der Entwicklungsprogramme noch immer grösstenteils im Westen gefällt werden, z.B. bei Entwicklungsagenturen der Gebernationen, in multilateralen Institutionen wie der Weltbank oder von grossen Stiftungen. Ebenfalls bemängeln sie, allzu oft blosse Umsetzungspartner von im Westen definierten Projekten zu sein, dass ihnen zu wenig Vertrauen entgegengebracht und ihr lokales Wissen nicht gebührend wertgeschätzt werde. 

Schutz der Menschenrechte und Stärkung der Zivilgesellschaft  

In der Realität zeigt sich, dass der Grad der Lokalisierung variiert – je nachdem, ob hinter den Projekten und Programmen z.B. ein grosses Geberland wie die USA oder die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit kleinerer Länder wie der Schweiz, die Weltbank oder das schweizerische Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) oder eine verhältnismässig kleine internationale NGO steht. Über alles gesehen, kann längst noch nicht von einer «gleichberechtigten Partnerschaft auf Augenhöhe» zwischen allen Partnern gesprochen werden. Trotzdem gilt es anzuerkennen, dass sich in den vergangenen Jahren vieles zum Positiven entwickelt hat: die Förderung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit, der Schutz der Menschenrechte und die Stärkung der Zivilgesellschaft und von Frauen sind in der Internationalen Zusammenarbeit (IZA) immer wichtiger geworden – und die Lokalisierung, also die Verschiebung der Kompetenzen in die Partnerländer, bleibt keine akademische Debatte mehr, sondern wird tatsächlich vorangetrieben (Locally-led Development). 

Konkret werden für die Umsetzung von Entwicklungsprogrammen vermehrt lokale Mitarbeitende eingestellt, nationale Kapazitäten aufgebaut bzw. gestärkt und die lokale (Direkt-)Finanzierung aufgestockt. Ebenfalls wird die Beteiligung nationaler zivilgesellschaftlicher Akteure und von Frauen verbessert und deren Sichtbarkeit und Mitsprache in der Ausarbeitung und Umsetzung von Projekten erhöht. Dazu gehört, dass Entscheidungsbefugnisse sowie die Führungsrolle lokaler Akteure noch stärker anerkannt werden.

Klare Grundsätze und Richtlinien

Nur gemeinsam mit NGOs im Süden können internationale NGOs globale Ungerechtigkeiten glaubwürdig anprangern und bekämpfen. Gleichzeitig können nationale NGOs mit der Unterstützung internationaler Organisationen auf Probleme in ihren eigenen Ländern hinweisen und bessere Regierungsführung einfordern. Angesichts der Verschärfung globaler Krisen gewinnt auch das Kontinent-übergreifende zivilgesellschaftliche Engagement an Bedeutung, z.B. im Kampf gegen klimaschädliche Öl- und Kohleförderung, zum Schutz indigener Völker oder beim Engagement für mehr Gleichstellung und Gerechtigkeit in der Gesellschaft. 

Dafür gibt es beispielsweise bei Helvetas Grundsätze und Richtlinien für Partnerschaften. Während es in einigen Ländern eine Vielzahl an etablierten nationalen Organisationen, sozial- und umweltpolitisch verantwortungsvollen Unternehmen und (sub-)staatlichen Institutionen gibt, schränken anderswo autoritärere Regierungen den Raum für bürgerschaftliches Engagement ein und streben nach Kontrolle über alle Entwicklungs- und humanitären Akteure. Innerhalb solcher Zwänge ist oftmals die internationale NGO das Gesicht einer Entwicklungsintervention, um so nationale NGO-Partner zu «schützen». In fragilen Ländern wiederum sind zivilgesellschaftliche Organisationen und deren Erfahrung häufig begrenzt. Dort ist es sinnvoll, die nationalen Partner mit einer Grundfinanzierung zu unterstützen, um die organisatorischen und kollektiven Fähigkeiten zu fördern, die über den Projektumfang hinausstrahlen. 

Neue Rollen für internationale NGOs

Die Lokalisierungs-Debatte bietet der internationalen NGO-Gemeinschaft einschliesslich der Geber und nationalen Partner die Möglichkeit, die Diskussion über die Auslegung von Entwicklung in ihrem jeweiligen Umfeld zu vertiefen – und zu erörtern, wie Armut, Ungleichheit und Menschenrechtsverletzungen gemeinsam bekämpft werden können. In mehreren Ländern wie Nepal, Tansania und Senegal diskutieren Helvetas-Mitarbeitende intensiv mit Partnerorganisationen über ihre Vorstellungen von Partnerschaft und Lokalisierung. Gleichzeitig wird lokal geführte Entwicklung mit allen Abteilungen diskutiert, sodass Helvetas ihre Partnerschafts- und Lokalisierungspraktiken in ihren internen Abläufen optimieren kann. Schweizer NGOs führen Tagungen und Workshops durch, um diese Fragen untereinander, aber auch mit interessierten Geberorganisationen wie der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und privaten Stiftungen zu besprechen. 

Die Rollen der verschiedenen Akteure müssen sich verändern. Internationale NGOs können zunehmend zu Dienstleistern und Vermittlern von Fachwissen werden sowie den Zugang zu ihren internationalen Netzwerken gewähren. Dies erfordert von allen Beteiligten die Bereitschaft, ihre Organisationskultur, internen Prozesse, Führungsstile und Kooperationsmodelle zu überdenken. So schwierig dieses Unterfangen auch ist, es lohnt sich. Eine robuste globale Zivilgesellschaft, die in der Lage ist, gleichberechtigt mit Verbündeten in der Regierung und im Privatsektor zusammenzuarbeiten, ist unerlässlich, um Antworten auf die Herausforderungen zu finden, vor denen wir alle stehen. 

Beispiel: «Lokalisierung» in Nepal 

Helvetas unterstützt in Nepal den Bau und die Instandhaltung von Hängebrücken. Diese ermöglichen Kindern den Schulbesuch, senken dank Zugang zu Gesundheitseinrichtungen die Müttersterblichkeit, eröffnen Bauernfamilien neue Märkte und stärken die Zivilgesellschaft. Seit vielen Jahren sind es nepalesische Ingenieur:innen, die die Brücken berechnen, nepalesische Techniker:innen, die den Bau leiten. Auch die Planung neuer Brücken liegt schon seit langer Zeit in der Kompetenz der zuständigen Regierungsstellen. 

Bei der Finanzierung ist die Regierung von Nepal auf internationale Geldgeber angewiesen. Unter ihnen ist auch die Deza. In ihrem Auftrag begleitet Helvetas die zentralen und regionalen Planungsbehörden mit Beratung und Schulung der administrativen Abläufe. Zudem organisiert Helvetas Kurse für die Aus- und Weiterbildung von Technikern. Das entsprechende Wissen wird über die Süd-Süd-Kooperation an Ingenieure in anderen Ländern des Globalen Südens weitergegeben. 

Lesen Sie hier den ersten Teil zu «Decolonizing Aid». 

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