Don Teófilo, der Wassermann

Für seine Familie kommt das Wasser heute aus dem Hahn. Und der Ort in den bolivianischen Hügeln, wo das saubere Wasser herkommt, ist dank Teófilo ein kleines Naturparadies geworden.
TEXT: Hanspeter Bundi - FOTOS / VIDEOS: Simon B. Opladen

«Das hier ist mein Bach», sagt Teófilo Garcia Caraballo und zeigt mit der Hand auf eine unscheinbare, halb zugewachsene Rinne im weichen Waldboden. Um uns herum singen Vögel, deren Stimmen ich noch nie gehört habe, und aus der Rinne kommt kaum hörbar das Murmeln von fliessendem Wasser.

Teófilo hebt seinen Blick und zeigt mit einer weiten Handbewegung auf die Bäume, den Wald und an den Hang über dem Bachlauf, wo hinter den Bäumen offenes Land zu vermuten ist. «Das ist meine Cuenca», ergänzt er und mustert die Reaktion des Besuchers, doch eigentlich weiss er um den positiven Eindruck, den seine Arbeit hinterlässt. Die Wasserleitungen, die Bewässerungsanlage für seine Felder und die Massnahmen zum Schutz der Cuenca sind eindrucksvolle Zeugnisse seiner Initiative und seines Fleisses.

Endlich genug Wasser: Familie Caraballo blüht auf

Cuenca heisst Becken, Senke, Tal. Cuenca heisst auch Quellzone oder – etwas sperrig –  Wassereinzugsgebiet. In Villa Serrano, einer ländlichen Gemeinde etwa 200 Kilometer von Sucre, der administrativen Hautstadt des Landes, entfernt, führt Helvetas ein Projekt für die Pflege und den Erhalt ebensolcher Wassereinzugsgebiete durch.

Teófilo hat mich auf seinem Motorrad zu seiner Finca in den Hügeln mitgenommen. Als wir beim Hauptort der Gemeinde losfuhren, waren unten im kleinen Fluss Unken zu hören. Es tönte, als ob Hunderte von hellen Klanghölzern gegeneinandergeschlagen würden. Wir fuhren über leidlich gute Strassen, über Bachläufe und kleine Brücken hinauf und hinein in die Hügel, deren Kuppen in einem dichten Nebel lagen.

Wir überholten zwei Bauern, die auf dem Weg zu ihren Feldern waren. Sie hatten ihre kurzstieligen Hacken geschultert, und sie traten ohne Hast zur Seite, als sie das Motorrad hörten. Es waren die einzigen Menschen, denen wir auf dem Weg begegneten. Nach einer Fahrt von vielleicht einer Stunde stellte Teófilo sein Motorrad an den Strassenrand, öffnete eine Lücke im Stacheldrahtzaun, und ich folgte ihm hinein in sein Reich.

Die Quellzone im Wald schützt der Bauer sorgfältig, damit keine Tiere das Wasser verunreinigen.
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Ein schützender Zaun für das Wasser


Der Pfad ist gesäumt von Föhren, die Teófilo selber gepflanzt hat. An den langen Nadeln sind Tropfen von einem Nachtregen oder von Tau. Im morgendlichen Zwielicht zwischen dem Nebel und dem nunmehr offenen Himmel ist alles in zauberhaftes blaues Licht getaucht. «Zwei Hektar», sagt er. «So viel habe ich eingezäunt.» In regelmässigen Abständen hat er letztes Jahr Pfähle in den Boden gerammt und Stacheldraht dazwischengespannt. Fast einen Kilometer Zaun hat er so gezogen.

Es war ein Helvetas-Kurs, der ihn darauf brachte, die Cuenca zu schützen. Teófilo Garcia Caraballo ist 37 Jahre alt, klein, drahtig, und in seinem Gesicht steht ein Lächeln, von dem ich nicht weiss, ob es von innerer Zufriedenheit zeugt oder von spöttischer Nachsicht gegenüber dem Fremden, der verzückt in dieser fast märchenhaften Welt steht. «Früher war hier alles offen», sagt er und beschreibt, wie Rinder und Schafe den Bach verschmutzten, wenn sie daraus tranken, und wie sie die jungen Bäume schädigten. «Jetzt können sie den Wald nicht mehr betreten. Der Bach bleibt sauber, und das Jungholz kann ungehindert wachsen», sagt Teófilo.

«Solange ich lebe, wird hier kein Baum mehr gefällt.»

Teófilo Garcia Caraballo, 37, Bauer in Villa Serrano, Bolivien

Teófilo nutzt nur das Totholz, natürlich abgestorbene Bäume oder Äste. Was er darüber hinaus als Bau- oder Feuerholz braucht, wird schon in wenigen Jahren aus der kleinen Föhrenpflanzung kommen, die er oben beim Weg angelegt hat.

Während wir durch den Wald gehen, bückt sich Teófilo zwei Mal zum unsichtbaren Bach hinunter. Ein erstes Mal, um die einfache Trinkwasserfassung zu reinigen, von der ein Schlauch bis zu seinem Haus führt. Ein zweites Mal, um mir die Fassung für die Bewässerungsleitung zu zeigen.

Eine Wasserleitung verändert das Leben

«Wasser ist ein Segen», sagte Inés Caraballo Padilla, Teófilos Mutter, am Vorabend. Wir sassen im trüben Schein einer schwachen Glühbirne in ihrem Schlafzimmer, das gleichzeitig auch die Küche ist. «Ayyyy», sagte die 76-Jährige immer wieder. Ayyyy! Ein lang gezogener, heller Ausruf, den vor allem alte Leute hier brauchen, wenn sie eine Information unterstreichen oder ein Gefühl verstärken wollen. Ayyyy!

Früher stellten sie während der Regenzeit Kübel und Schalen unter den Dachrand, um das Wasser aufzufangen. In der Trockenzeit schöpften sie das Wasser aus Tümpeln oder aus dünnen Flussläufen, die mehr oder weniger weit entfernt lagen. Und – Ayyyy! – wenn die Trockenzeit besonders schlimm war, musste Inés bis zu einer Stunde weit gehen.

«Manchmal bin ich zusammengebrochen. Manchmal ist ein Tongefäss kaputtgegangen», sagte Doña Inés. Sie sprach ein verwaschenes Spanisch, das ich kaum verstand, und ich sah immer wieder fragend zu ihrer Nichte hin. Sie wiederholte, was ihre Tante gesagt hatte, und sie formulierte meine Fragen so, dass sie bei der alten Frau ankamen. «Ayyyy!», sagte Doña Inés. «Wir tranken aus den gleichen Löchern wie die Tiere.»

Weil Inés' Sohn eine Trinkwasserleitung gebaut hat, hat der Hof jetzt das ganze Jahr über Wasser, und weil ein Zaun das Vieh von der Cuenca fernhält, bleibt dieses Wasser sauber. Ausserdem haben sie genug, um die Äcker zu bewässern. «Ayyyy! Früher hatten wir keine Früchte und kaum Gemüse. Aber jetzt haben wir Äpfel und Pfirsiche, und wir können Gemüse anpflanzen», sagte Doña Inés.

In den ländlichen Gebieten Boliviens leben immer noch 30 Prozent aller Menschen ohne Zugang zu sauberem Wasser. In den ärmsten Regionen des Altiplano wird dieser Wert weit überschritten. Dort, auf 4000 Metern, wo die Sonne tagsüber unbarmherzig vom Himmel brennt und in der Nacht die Temperaturen bis unter den Gefrierpunkt fallen, gibt es kaum Bäume und Wälder, die dem Boden helfen, Wasser zu speichern.

Im grossen Becken sammelt Teófilo in der Trockenzeit Wasser für die Felder; zum Heim der Familie führen auch Trinkwasserleitungen.

Die meisten Wasserläufe sind schon wenige Wochen nach der Regenzeit wieder ausgetrocknet, und die Frauen und Mädchen machen sich auf den Weg zu nahen, später dann immer weiter entfernten Wasserlöchern. In den besonders betroffenen Dörfern des Hochlandes finanziert Helvetas Zisternen, die während der Regenzeit das Dachwasser auffangen und für einige Monate speichern.

Begierig nach neuen Ideen

In der Gegend von Villa Serrano, wo die Familie von Teófilo lebt, unterstützt Helvetas ein Wasserprojekt der anderen Art. Hier, in Höhen zwischen 2000 und 2500 Metern, geht es um den Schutz kleiner Waldstücke mit Böden, die das Regenwasser wie ein Schwamm speichern und während der Trockenzeit langsam wieder abgeben. Diese kleinen Wassereinzugsgebiete sind gefährdet. Die Versuchung für die Bauern ist gross, die wertvollen Bäume zu fällen, sei es, um das Holz zu nutzen, sei es, um Weideland zu gewinnen.

Hier unterstützt Helvetas die Bauernfamilien, die in die Zukunft investieren und ihre kleinen Waldstücke schützen, vielleicht sogar ausdehnen wollen. Die genauen Pläne dafür – Aufforstungen und Schutzzäune in Waldstücken, Terrassierungen und Sickergräben im offenen Gelände – werden von den Anwohnerinnen und Anwohnern selber gezeichnet, denn niemand kennt die örtlichen Verhältnisse und die Bedürfnisse der Gemeinschaft besser als sie.

Mit selbstgebauten Wasserleitungen ...
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... führt Teófilo das kostbare Wasser zu seinen Pflanzen.
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Teófilo hat mich unterdessen zu seiner Finca geführt. Als Erstes öffnet er den Trinkwasserhahn und zeigt mir, wo die Trinkwasserleitung verläuft, die er vor einigen Jahren angelegt hat. Dann zeigt er mir den neuen Bewässerungsteich.

Der Kurs von Helvetas hat ihn nicht nur dafür sensibilisiert, seine Cuenca zu schützen und Bäume zu pflanzen, sondern gab ihm auch die Idee, ein Bewässerungssystem für seine Pflanzungen einzurichten. Zentrales Element ist ein Teich, der das Wasser aus dem kleinen Bach sammelt, der in der Trockenzeit nur sehr wenig Wasser führt.

Um diesen Teich zu schützen, hat Teófilo nicht einfach einen Zaun gezogen, sondern eine übermannshohe Lehmmauer gebaut. Eine kunstvolle, von Gucklöchern rhythmisch durchbrochene Anlage, die sich harmonisch in die Landschaft einfügt. Eine Anlage, die bildhaft zeigt, wie wertvoll ihm Wasser und Bewässerung sind.

Der sechsjährige Rilberth mit Papa Teófilo auf dem Feld.
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Dank der neuen Wasserleitungen ...
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... kann die Familie Caraballo heute reichlich ernten.
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Wenige Meter unter dem Teich liegen Teófilos Pflanzungen, die Gersten- und Kartoffeläcker, die Anfänge eines Gemüsegartens, die Erdterrassen mit Apfel- und Pfirsichbäumen. Ich pflücke einen kleinen Apfel. Er hat festes, saftiges Fleisch mit einem intensiven, süss-sauren Geschmack. Auch die Idee, Obstbäume zu pflanzen, kam ihm in einem Kurs von Helvetas.

Teófilo ist begierig nach neuen Impulsen und Anbautechniken und besucht deshalb regelmässig Kurse von Regierungsstellen oder NGOs. Wenn er dort etwas sieht, das ihm einleuchtet und ihn packt, holt er sich alle Informationen und macht sich daheim so schnell wie möglich ans Werk. «Wenn ich ein Vorhaben nicht sofort in die Hand nehme, verblasst die Idee, und ich lasse es schliesslich bleiben», sagt er. «Nur was man umsetzt, weiss man wirklich.»

Ohne Risiko kein Vorankommen

In der Zwischenzeit steht die Sonne schon hoch am Himmel. Um ihren sengenden Strahlen auszuweichen, gehen wir in den Innenhof der Finca und setzen uns in den Schatten einer Mauer. Wird es ihm nicht manchmal zu viel, immer wieder neue Ideen anzupacken?

«Schau», sagt Teófilo und zeichnet mit einem Stecken Linien in den Staub, die sich schon bald zu einer rudimentären Landkarte zusammenfügen. «Da ist die Cuenca. Da ist der kleine Bach mit den Wasserfassungen. Da sind die Zuleitungen zum Haus und zum Bewässerungstank. Und da ist das Leitungsnetz für die Tröpfchenbewässerung.» All das hat er in den letzten Jahren gebaut und eingerichtet. Schritt um Schritt nähert er sich seinem Traum, das wenig genutzte Land in eine grüne Oase zu verwandeln.

Neugierig und wagemutig: Teófilo probiert gern Neues aus.

Teófilo ist sich bewusst, dass nicht alle so initiativ sind wie er und dass allzu viele auf die Regierung oder auf eine Organisation warten, statt selber zuzupacken. «Die meisten Leute wollen keine Risiken eingehen. Sie wollen nur das, was sie kennen, selbst wenn sich das nicht bewährt hat», sagt er. «Doch wer kein Risiko eingeht, lernt nichts und kommt auch nicht voran.»

Ich frage ihn, ob ihn sein Mut noch nie verlassen habe. Vor einigen Jahren, sagt er, habe er tatsächlich daran gedacht, alles aufzugeben, Land und Vieh zu verkaufen und nach Santa Cruz zu ziehen, in die boomende Stadt im subtropischen Südosten des Landes.

Doch dann kam die Idee mit dem Schutz der Cuenca und mit der Bewässerung. Teófilo und seine Familie blieben. Seine Frau, sagt er, sei ähnlich wie er, «neugierig und wagemutig». Und ist er noch nie gescheitert? Seine Antwort erinnert an ein berühmtes Zitat Winston Churchills. Teófilo García Caraballo sagt:

«Ein Scheitern ist es nur dann, wenn man aufhört, Neues zu versuchen. Wenn man aufhört, weiter und weiter zu gehen.»

Teófilo Garcia Caraballo, 37, Bauer in Villa Serrano, Bolivien

Das sei es, was er von seinem Vater gelernt habe. «Er wollte, dass wir wach bleiben und immer wieder Neues lernen», sagt Teófilo. Und genau das will er seinen beiden Söhnen weitergeben. Lange Zeit hoffte er, der 17-jährige Yamil werde eine Landwirtschaftsschule besuchen, mit ihm zusammen die Finca weiterentwickeln. Doch Yamil machte Ernst mit der Idee, Neues zu suchen, und meldete sich für eine Ausbildung zum Automechaniker an.

Der sechsjährige Rilberth hat noch keine Berufspläne, oder er will sie nicht verraten. Fast stumm sitzt er da. Ich frage ihn nach der Wasserleitung und dem Wasser in seinem Glas. Das, sagt er, sei nichts Neues, das sei schon immer da gewesen.

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