Am Highway zum Erfolg

Dank ihrer familieneigenen Molkerei haben Subadhra und Tilak Timalsina sich und ihren Kindern eine existenzsichernde Zukunft in Nepal geschaffen.
TEXT: Franca Palmy - FOTOS / VIDEOS: Simon B. Opladen - 09. März 2023

Subadhra Timalsina streicht Ghanshyam zärtlich über das Gesicht. Mutter und Sohn stehen an einer der zwei Feuerstellen vor dem grünen, lehmverputzten Haus der Familie. Unter dem schützenden Blechdach pulsiert das Herz eines blühenden Familienbetriebs. Hier stellt Subadhra die Milchprodukte her, die ihr und ihrer Familie den Weg aus der Armut ermöglicht haben.

Trotz des Erfolgs sind die Schwierigkeiten von früher nicht vergessen: «Wir wussten oftmals nicht, ob das Geld reicht, um die Kinder zur Schule zu schicken», sagt die heute 48-jährige Subadhra. «Manchmal hatten wir nicht einmal genügend zu essen.»  Die Erinnerungen treiben ihr Tränen in die Augen. Doch dies bleibt an diesem Tag der einzige schwere Moment, denn Subadhra lacht gerne und häufig. Die zierliche Frau ist ständig in Bewegung: von morgens vier Uhr, wenn sie aufsteht, bis abends um
halb zehn, wenn sie sich schlafen legt. Manchmal auch später, wenn vor Feiertagen die Nachfrage für Khuwa steigt, und sie und ihr Mann Tilak bis weit in die Nacht hinein Produkte verpacken. 

Khuwa, das an die Konsistenz und den Geschmack eines süsslichen Griessbreis erinnert, dient als Grundlage für viele Süssspeisen in Nepal und ist das Spitzenprodukt der Familienmolkerei. Dazu wird Milch in einem dicken Metalltopf langsam über dem Feuer erwärmt und unablässig mit einem Spachtel gerührt. Die Herausforderung ist es, den Milchzucker aus der Milch zu kondensieren, ohne dass die immer dicker werdende Masse karamellisiert. «Das Endprodukt soll möglichst hell sein und darf auf keinen Fall anbrennen», erklärt Subadhra.

Kompetente Fachberatung

Das Projekt InElam unterstützt arbeitslose Frauen und Männer einschliesslich rückkehrender Migrant:innen dabei, unternehmerisch tätig zu werden. Das Helvetas- Projekt fördert interessante, innovative Geschäftsideen und verbessert die Rahmenbedingungen für Start-Ups mithilfe sogenannter Enterprise Service Providers (ESPs), oder Serviceanbieter:innen, wie Saroj Koirala: «Es gibt keine 08/15-Lösung für alle», sagt der Berater, Trainer und Geschäftsmann. «Die Begleitung eines Unternehmens ist immer an den individuellen Bedürfnissen ausgerichtet.» Fast immer brauchen die Jungunternehmer:innen Hilfe beim Businessplan, beim Ausfüllen amtlicher Formulare oder auch im Marketing.

Die ESPs nehmen häufig auch die Rolle von Garant:innen für Banken ein oder stellen die Verbindung zu potenziellen Abnehmern her. Koirala und seine Kolleg:innen, 38 % sind Frauen, sind Allrounder, führen selbst Unternehmen und haben Angestellte. Meist sind sie im selben Sektor tätig, in dem sie ihre Beratung und Dienstleistungen anbieten. Koirala beschäftigt in seinem Büro fünf Vollzeitangestellte, die je 200 bis 300 Kleinunternehmer:innen unterstützen und begleiten.

Die Teilnahme am Programm und die Beratung ermöglichte es der Familie Timalsina, sich mit Abnehmern und Kundschaft zu vernetzen. Sie hat dank der Unterstützung die Verpackung und die Lagerung der verschiedenen Milchprodukte professionalisiert. Aus Sicht von Saroj Koirala war es besonders wichtig, für die Familienmolkerei ein Online-Buchhaltungssystem aufzusetzen, das die Abrechnung vereinfacht.

Die ESPs werden im Rahmen des InElam-Projekts ausgewählt und absolvieren eine 1'500 Stunden umfassende Grundausbildung in Unternehmensentwicklung. Der entsprechende Lehrplan ist inzwischen staatlich zertifiziert und in einen Universitätsstudiengang integriert. Auch stehen die Serviceanbieter:innen Modell für die staatlichen Beratungsdienste, die nun in mehreren Regionen geschaffen werden. Weiter engagieren sich die ESPs für die Vernetzung von Unternehmen und Verbänden und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Mit den Universitäten arbeitet das Helvetas-Projekt an Förder- und Austauschprogrammen für Start-Ups. Finanziert wird das Projekt durch Spenden, Stiftungen und mit dem Programmbeitrag der Deza.

50 Kilo Khuwa pro Tag

Die Timalsinas leben am Mahendra Highway, 150 Kilometer südlich der Hauptstadt Kathmandu. Angefangen haben sie als Milchsammler. Zudem besassen sie drei bis vier eigene Büffel, deren Milch sie zu Khuwa verarbeiteten. Diese Einkünfte reichten aber nirgends hin, so dass sich Subadhra zusätzlich als Tagelöhnerin verdingte. Schritt für Schritt, mit viel Einsatz und Erfindungsreichtum, entwickelte das Paar das kleine Geschäft weiter, kaufte Milch dazu, tüftelte an Verbesserungen. So erfand der heute 54-jährige Tilak eine Luftmaschine, die dafür sorgt, dass nicht ständig jemand bei der Feuerstelle bleiben muss, um das Feuer am Laufen zu halten. Ein grosser Schritt war es, als ein Serviceanbieter aus dem Helvetas-Projekt InElam mit Tilak einen grösseren Betrieb besichtigte, in dem Tilak einen motorbetriebenen Khuwa-Topf entdeckte. Mithilfe des Beraters entwarf Tilak einen Businessplan und bewarb sich um staatliche Finanzierung für den Aufbau des Familienbetriebes, der «Shree Krishna Dairy Enterprise».

Heute besitzen auch die Timalsinas einen motorbetriebenen Topf. Während Subadhra früher stundenlang am Feuer stand, die Milch von Hand umrührte und so gerade mal 140 Kilo Khuwa pro Woche herstellte, produziert die Familie heute 100 Kilo in zwei Tagen. Die freigewordenen Kapazitäten nutzte das Paar, um die Produktepalette zu erweitern: mit Joghurt und Paneer-Käse und bei Bedarf auch Ghee, geklärte Butter.

Bei unserem Besuch stellt Subadhra Paneer her. Ihre Wangen sind gerötet vom Rühren in der Milch, die sie auf der kleineren Feuerstelle langsam auf 75 Grad erwärmt und dann durch Beigabe von Zitronensäure in den beliebten Frischkäse verwandelt. Subadhra und der 20-jährige Ghanshyam, der seine Mutter um mehr als einen halben Kopf überragt, plaudern und kichern unentwegt – der liebevolle Umgang in der Familie ist auch für Aussenstehende spürbar.

Für den jungen Mann, der zurzeit in Kathmandu studiert, ist es klar, dass er später im gleichen Haus wie seine Eltern und Geschwister leben möchte. Zwar wird sein älterer Bruder als studierter Agronom wohl das Geschäft übernehmen, aber Ghanshyam ist zuversichtlich, in der Nähe einen Job zu finden: «Die Gegend hier entwickelt sich rasch, es wird schon bald Computeringenieure wie mich brauchen.» Um seine Eltern zu entlasten, fährt Ghanshyam vor Sonnenaufgang mit dem Töffli los, um bei den Sammelstellen die Milch abzuholen. Inzwischen sind es rund 80 Bäuer:innen, die der Familie Timalsina zuliefern.

«Ich habe das Herz einer Mutter: Eine bessere Zukunft für meine Kinder ist eine bessere Zukunft für mich.»

Subadhra Timalsina, Khuwa-Produzentin

Der Laden der Familie Timalsina am Mahendra Highway, der von Ost nach West ganz Nepal durchquert.
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Ghanshyam bindet an der Sammelstelle den vollen Milchbehälter auf sein Töffli.
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Teamwork ist bei den Timalsinas selbstverständlich.
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Die Qualität macht den Unterschied

«Ich bin Nummer 13», sagt ein etwa acht Jahre alter Bub zur Begrüssung an der Sammelstelle und überreicht Ghanshyam einen blauen Plastikkessel mit der Milch. Die Zulieferer sind nicht mit Namen, sondern mit einer Nummer im schwarzen Notizheft registriert. Dort notiert Ghanshyam die abgegebene Menge. Jeder Milchlieferung entnimmt er mit einem Röhrchen eine kleine Probe, die ein paar Stunden später von seiner Schwester Sarmila geprüft wird: auf Fettgehalt, Dichte und Laktose. Die Qualität bestimmt den Preis, der pro Liter Milch zwischen 50 und 60 Rappen beträgt. Ausbezahlt werden die Bauernfamilien alle zwei Wochen.

An der Sammelstelle herrscht ein Kommen und Gehen. Es sind meist Kinder, jüngere und ältere Frauen sowie ein paar ältere Männer, welche die Milch bringen. Sie alle bleiben gerne für einen Schwatz stehen. Manche Kinder strecken Ghanshyam einen leeren Topf entgegen. Es sind dies Kinder aus armen Familien, die durch ein Regierungsprogramm ein Anrecht auf einen halben Liter Milch pro Tag haben. Auch sie sind im schwarzen Büchlein aufgelistet.

Ghanshyam hilft gerne im Familiengeschäft aus, aber am liebsten mag er den direkten Austausch mit den Menschen, wie hier an der Sammelstelle. «Da merkt man auch am besten, wo den Leuten der Schuh drückt.» Zurzeit sind es die steigenden
Lebenshaltungskosten – die Folge von Pandemie und Ukrainekrieg.

Nach gut eineinhalb Stunden wuchtet Ghanshyam den vollen Milchkessel auf das Mofa, sichert ihn mit Seilen und bindet auch die diversen Plastikbehälter irgendwo fest. Nächste Station ist der Shop der Timalsinas, den sie nach Beginn der Pandemie gemietet haben. «Der Laden hat uns gerettet, denn während des Lockdowns konnten wir nichts mehr ausliefern, aber im Laden haben die Menschen trotzdem Milch und Paneer und Joghurt gekauft.» Die Timalsinas bauen sich jetzt ein eigenes Ladenlokal auf; in sechs Monaten soll es bezugsbereit sein.

«Die Gegend hier entwickelt sich rasch, es wird schon bald Computeringenieure wie mich brauchen.»

Ghanshyam Timalsina, Student

Buchhalterin mit Ambitionen

Im Laden bedient Sarmila gerade einen Kunden und schneidet ein Stück von einem grossen Block Paneer ab. Die 24-Jährige ist das älteste Kind der Familie. Seit ihrem Bachelorabschluss in Management steht Sarmila täglich im Shop. Sie hat grosse Pläne für das Familienunternehmen und will die Produktepalette ausweiten: «Ich möchte, dass wir selbst auch Süssigkeiten herstellen und verkaufen. Damit können wir mehr Milch verwerten, das ist auch gut für die Bauernfamilien, die uns ihre Milch verkaufen », sagt sie. Sarmila kennt die Zahlen. «Seit ich das erste Mal einen Taschenrechner in der Hand hatte, erledige ich für die Familie die Buchhaltung.» Auch während ihres Studiums kam sie dafür einmal pro Monat nach Hause.

Die junge Frau erinnert sich noch gut an die Zeiten, als die Familie arm war. Zum Beispiel daran, dass sie als Kind um vier Uhr aufstehen musste, um rechtzeitig in der Schule zu sein. Zwei Stunden dauerte der Fussmarsch. Erst als Sarmila in der sechsten Klasse war, konnten es sich ihre Eltern leisten, sie in eine näher gelegene, private Schule zu schicken. Die Tochter hat miterlebt, wie sich ihre Eltern Tag und Nacht für eine bessere Zukunft abrackerten. Sie sieht das aber nicht negativ: «Wir waren immer alle gemeinsam am Arbeiten, das ist auch etwas Schönes.» Wie ihr jüngerer Bruder Ghanshyam blickt auch sie optimistisch in die Zukunft. Nach dem Bau des familieneigenen Ladens will sie ihre eigenen Pläne umsetzen. «Meine Eltern unterstützen meinen Traum. Ich werde mit einem Süsswarenladen starten, aber bis in 15 Jahren sollen daraus mehrere werden.»

Sarmila führt Buchhaltung und Laden – leidenschaftlich gern.
«Seit ich das erste Mal einen Taschenrechner in der Hand hatte, erledige ich für die Familie die Buchhaltung.»

Sarmila Timalsina, Verantwortliche für Verkauf, Qualitätssicherung und Buchhaltung

Nischenprodukt als Erfolgsrezept

«Wir sind die einzigen, die Büffelmilch verkaufen, das macht unseren Laden speziell», erzählt Vater Tilak stolz. «Uns fehlt nur noch eine bessere Verpackung für die Milch, aber daran arbeiten wir.» Er ist sicher, dass sie bald eine Lösung finden – so wie beim Khuwa, das er und Subadhra luftdicht verpacken. Diese Arbeit macht das Ehepaar immer gemeinsam, es ist häufig die einzige Gelegenheit, sich zu sehen. «Oft haben wir nicht einmal Zeit, gemeinsam zu essen, jeder isst, wenn er gerade kann», sagt Subadhra lachend. «Aber», fügt sie hinzu, «arbeiten macht mich glücklich. Ich habe das Herz einer Mutter: Eine bessere Zukunft für meine Kinder ist eine bessere Zukunft für mich.»

Für Tilak ist es das Wichtigste, dass seine Kinder eine Perspektive in Nepal selbst haben – und nicht im «Mittleren Osten bei 40 Grad schuften müssen». Es macht ihn stolz, dass er heute im Dorf einen guten Ruf geniesst – er, der als eines von sechs Kindern einer früh verwitweten Mutter in tiefster Armut aufwuchs und oft bei Nachbarfamilien um das Allernötigste bitten musste. Rückblickend sagt er: «Meine Mutter war vielleicht jung und überfordert, aber nur dank ihr haben wir es geschafft. Sie hat hart gearbeitet, um uns alle durchzubringen.» Es mag auch an seiner eigenen Geschichte liegen, dass Tilak mit Subadhra jedes Detail bespricht und jede Entscheidung gemeinsam getroffen wird.

Tilak möchte das Familiengeschäft zu einem Vorbildunternehmen machen, das andere ebenfalls zum Handeln motiviert. Das Ehepaar gibt sich trotz des Erfolgs noch nicht zufrieden, – sie wollen sich weiterentwickeln, zusammen mit den Kindern, als Familie. Plagen sie keine Zukunftssorgen? «Ich mache mir überhaupt keine Sorgen um die Zukunft», sagt Subadhra, während sie stolz auf ihre Familienmitglieder blickt, «meine Kinder sind mein Reichtum.»

Nepal im Kontext: Es fehlt an Fachkräften im Land

Seit den 1990er Jahren stagniert der Produktionssektor in Nepal: Er ist nicht in der Lage, genügend Arbeitsplätze zu schaffen für die halbe Million junger Menschen, die jährlich neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Mangels Jobs arbeiten derzeit 2,2 Millionen Nepales:innen im Ausland – oft unter miserablen Bedingungen. Trotz deren Rücküberweisungen, die einen Viertel des Bruttoinlandproduktes ausmachen, kommt die nepalesische Wirtschaft nicht voran, weil im Land Fachkräfte fehlen. Helvetas fördert deshalb in Nepal das Unternehmertum, um Arbeitsplätze zu schaffen. Zugleich unterstützt Helvetas im Auftrag der Deza die Berufsbildung sowie lokale Informationsstellen, die nepalesische Arbeitsmigrant:innen vor der Ausreise beraten und daheimgebliebene Familienmitglieder unterstützen.