ICSID in the World Bank Group headquarters building in Washington, D.C.Washington, USA | © CC BY 2.0 (ICSID)

Wenn Investoren Regierungen verklagen

Dysfunktionale Streitbeilegung schränkt staatliche Souveränität ein
VON: Patrik Berlinger - 05. April 2024
© CC BY 2.0 (ICSID)

Investitionsschutzabkommen sind umstritten, weil bei Streitigkeiten häufig Unternehmen einseitig bevorzugt werden. Gerade im Globalen Süden führt es dazu, dass viele Regierungen vor sozial-, umwelt- und klimapolitischen Reformen zurückschrecken, weil sie langwierige Verfahren und hohe Entschädigungszahlungen fürchten. 

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der beim ICSID eingegangenen Klagen von Unternehmen verdoppelt. ICSID steht für das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten. Es wurde 1965 gegründet, gehört zur Weltbank und unterstützt die Streitbeilegung im Rahmen bilateraler und multilateraler Investitionsschutzabkommen (ISA). 165 Länder gehören der Institution in Washington an. 

Hintergrund ist, dass Konzerne erst im Ausland investieren, wenn sie Rechtschutz geniessen. Häufig wollen sie sich dabei nicht auf örtliche Gerichte verlassen. Zur Förderung von Auslandsinvestitionen schliessen Länder untereinander Investitionsschutzabkommen (ISA) ab. Diese sehen vor, dass allfällige Streitigkeiten über die Geschäfte fremder Inverstoren von einem unabhängigen Schiedsgericht wie dem ICSID beurteilt werden. Unternehmen können so finanzielle Ansprüche gegenüber der Regierung geltend machen, wenn diese ihre Verpflichtungen nicht einhalten oder – was öfter geschieht – sie die politischen oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen derart ändern, dass die Investoren Nachteile befürchten. Mangels eines globalen Investitionsschutzregimes wurden weltweit 3’000 bilaterale ISA ausgehandelt; die Schweiz allein hat über 120 ISA abgeschlossen. Die NZZ berichtet, dass die «Durchsetzung von Urteilen gegenüber Staaten äusserst komplex und aufwändig» ist – nötig sei ein langer Atem, um Prozesse trotz aller Hindernisse erfolgreich zum Abschluss zu bringen. 

Schiedsgerichte: ein Mechanismus mit Schwächen 

Die ersten ISA kamen im Jahrzehnt der Dekolonialisierung auf. Damit sollten Investoren aus westlichen Ländern geschützt werden. Es erstaunt daher nicht, dass nur Konzerne Staaten verklagen können – nie umgekehrt: In allen Fällen ist also der Staat der Beklagte, wobei die Regierungen keine Möglichkeit haben, die Entscheidung des Gerichts anzufechten.  

Obwohl die Verhandlungen von «öffentlichem Interesse» sind, finden sie weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. NGOs oder indigene Gruppen werden nicht angehört. Immerhin sind in jüngerer Zeit vermehrt Schriftsätze der Parteien und Beschlüsse der Schiedsgerichte online verfügbar. Die zentrale Kritik ist allerdings, dass die Länder in ihrer Souveränität übermässig eingeschränkt werden. Die Durchsetzung des Investitionsschutzes kann politische Entscheide behindern. Allein mit der Androhung von Schadensersatzforderungen können ausländische Investoren Einfluss auf die Gesetzgebung eines Landes ausüben. 

Drei Beispiele: 2015 verurteilte ein Schiedsgericht Argentinien zur Zahlung von mehr als 405 Millionen US-Dollar. Ursprünglich verlangte der französische Wasserkonzern Suez sogar 1,2 Milliarden, weil die argentinische Regierung nach der Finanzkrise 2001 zum Schutz der verarmten Bevölkerung die Wasser- und Strompreise gedeckelt hatte. 2021 wurde Ecuador verurteilt zu einer 374 Millionen-Zahlung an Perenco, dessen Mutterkonzern auf der Steueroase Bahamas registriert ist. Weil der damalige ecuadorianische Präsident nach der Finanzkrise 2008 höhere Erdölexport-Einnahmen für sein Land reklamierte, hatte der französische Ölkonzern eine Milliardenzahlung gefordert. 2022 verlangten deutsche und US-Investoren knapp 11 Milliarden US-Dollar Entschädigung von Honduras – zwei Drittel des honduranischen Haushaltsbudgets. Der Grund war, dass die aktuelle Regierung ein Projekt libertärer, extraterritorialer «Privatstädte» mit eigener Gesetzgebung stoppte, das ihr die Vorgängerregierung eingebrockt hatte. 

Die Beklagten sind überwiegend Entwicklungsländer 

Auffällig viele Klagen wurden in den Jahren 2015-18 sowie 2020 und 2021 eingereicht. Allein 2021 wurden neue Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren (Investor-state Dispute Settlement, ISDS) gegen 42 Länder eingeleitet. Peru war der häufigste Beklagte mit sechs bekannten Fällen, gefolgt von Ägypten und der Ukraine mit jeweils vier Fällen. Fünf Länder – Kambodscha, Kongo, Finnland, Malta und die Niederlande – wurden mit ihren ersten bekannt gewordenen ISDS-Klagen konfrontiert. Bislang sind mindestens 130 Länder in einem oder mehreren ISDS-Verfahren verklagt worden. 

Etwa drei Viertel der 68 Fälle im Jahr 2021 wurden von Konzernen aus Industrieländern vorgebracht. Wie in den Vorjahren wurde die Mehrheit der neuen Fälle – rund zwei Drittel – gegen Entwicklungsländer eingereicht. Dabei geht es in den meisten Fällen um Kohle- und Metallminen, um Wasserkraft und Holzgewinnung, um die Förderung von Öl und Gas oder um Nahrungs- und Futtermittelproduktion für den Export. Betroffen sind Länder wie Chile (Kupfermine), Kolumbien (Kohlemine), Ägypten (Zementproduktion), Kongo (Eisenerzmine), Peru (Kupfermine), Ukraine (Erdgas), Tansania (seltene Erden) oder Guatemala (Goldmine). 

Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren auf insgesamt 1'332. Von den 958 abgeschlossenen Streitangelegenheiten wurden die beklagten Regierungen in 37% der Fälle freigesprochen. In 47% der Fälle jedoch verlief das Verfahren zugunsten der Unternehmen, entweder weil die Schiedsgerichte die Regierungen im Sinne der Anklage verurteilen (28%), oder weil ein Vergleich erzielt wurde (19%). Allerdings bringt bereits die Androhung eines Schiedsverfahrens Regierungen dazu, ihre legitimen Interessen nicht voll geltend zu machen oder vorneweg Bussgelder zu zahlen, um einer allenfalls noch höheren Strafe durch einen Schiedsspruch zuvorzukommen.  

Verzögern Schiedsgerichte den erneuerbaren Umbau? 

Häufig berufen sich Kläger auf internationale Abkommen wie die Energiecharta (Energy Charter Treaty, ECT). Beschliesst ein Land aus klimapolitischen Gründen, ein Kohlekraftwerk zu schliessen oder erneuerbare Energien stärker zu fördern oder aus der Atomenergie auszusteigen, können ausländische Investoren auf der Basis der Energiecharta Entschädigungen in Millionen- oder gar Milliardenhöhe einklagen. Mit der Folge, dass die dringend notwendige Energiewende und die Bekämpfung der Klimakrise ausgebremst werden. 

Zurecht gerät die Energiecharta zunehmend in die Kritik, weil sie Unternehmen schützt, die in fossile Energieträger investieren. 2021 erklärte der europäische Gerichtshof die Institution für Streitigkeiten zwischen EU-Mitgliedstaaten für unwirksam – nicht zuletzt, aus Sorge heraus, dass sie europäische Regierungen in ihrer Politikgestaltung einschränkt. So hatte beispielsweise der schwedische Energiekonzern Vattenfall 2012 in einem Schiedsverfahren gegen Deutschland aufgrund des sicherheits- und klimapolitisch begründeten Entscheids über den vorgezogenen Atomaussteig geklagt. 2021 einigten sich die beiden Parteien – der Konzern erhielt eine Entschädigung von 1,4 Milliarden Euro. Inzwischen haben Spanien, Frankreich, Polen, die Niederlande und Deutschland beschlossen, die Energiecharta zu kündigen. Weitere europäische Länder erwägen den Austritt. Derweil sieht die Schweiz vorerst keinen Anlass dafür, die Energiecharta zu verlassen

Gleichzeitig erkennen die Zuständigen die Zeichen der Zeit: Unter Berufung auf die Energiecharta hatte der deutsche Energiekonzern Uniper 2021 die Niederlande verklagt. Der Konzern hatte 1,5 Milliarden Euro in sein Kohlekraftwerk investiert und ging davon aus, dieses weitere 40 Jahre zu nutzen. Weil das Kraftwerk auf der Basis eines neuen Gesetzes bis spätestens 2030 eingestellt werden soll, zog der Stromversorger vor das ICSID-Schiedsgericht. Die Klage wurde allerdings abgewiesen, weil die von der Regierung ergriffenen Massnahmen zur Verringerung von CO2-Emissionen angesichts der dringlichen Energietransformation «verhältnismässig» und «vorhersehbar» waren. Der Gerichtsentscheid dürfte einen wichtigen Präzedenzfall für ähnliche Streitigkeiten schaffen. 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
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