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Entwicklungsfinanzierung: Der Streit um die Promille

Zum Verhältnis von «öffentlicher Entwicklungshilfe» und internationaler Zusammenarbeit
VON: Geert van Dok - 08. Mai 2020
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Die Diskussion um die Entwicklungszusammenarbeit der kommenden Jahre geht in die entscheidende Runde. Bis Ende Jahr wird das Parlament über die künftige Strategie der internationalen Zusammenarbeit beschliessen. Dabei wird deren Ausrichtung vermutlich weniger zu reden geben als die Höhe der Gelder. Der Streit um die künftige «APD-Quote», das heisst um den prozentualen Anteil der «öffentlichen Entwicklungshilfe» am Bruttonationaleinkommen (BNE), dürfte heftig werden.

Im Oktober wird es genau 50 Jahre her sein, dass die UN-Generalversammlung per Resolution 2626 beschloss, dass «jedes wirtschaftlich fortgeschrittene Land seine öffentliche Entwicklungshilfe für die Entwicklungsländer schrittweise erhöhen und sich nach besten Kräften bemühen [werde], bis Mitte des Jahrzehnts [1975] einen Mindestnettobetrag von 0,7 Prozent seines Bruttosozialprodukts zu erreichen». Die UNO wollte damit sicherstellen, dass «ein grosser Teil der finanziellen Ressourcentransfers an die Entwicklungsländer in Form von öffentlicher Entwicklungshilfe geleistet werden solle». Seither gelten die 0,7 Prozent als eine Soft Law-Richtschnur bei der Bemessung der «öffentlichen Entwicklungshilfe» (Aide publique au développement, APD). Die APD-Quote von 0,7 Prozent des BNE wurde seither von einigen OECD-Ländern übertroffen, insbesondere von Schweden, Norwegen, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden und Grossbritannien – von der Schweiz hingegen noch nie.

Internationale Zusammenarbeit ist nicht nur Entwicklungszusammenarbeit

Der Bundesrat hat dem Parlament im Februar im Rahmen seiner Botschaft zur Strategie über die internationale Zusammenarbeit 2021-2024 fünf Rahmenkredite (RK) zur Genehmigung vorgelegt. Die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) ist nur ein Teil davon. Die beantragten Mittel belaufen sich auf insgesamt 11,25 Milliarden Franken und entsprechen in etwa jenen der aktuellen Strategieperiode:

  • RK 1: Humanitäre Hilfe (DEZA*): 2'145 Mio. Franken, davon 1’825 Mio. für humanitäre Aktionen und 320 Mio. für das IKRK,
  • RK 2: EZA (DEZA): 6'638 Mio. Franken, davon 3'910 Mio. für die bilaterale EZA mit armen Entwicklungsländern, 1'725 Mio. für Beiträge an multilaterale Organisationen und 1'003 Mio. für die IDA*,
  • RK 3: Wirtschaftliche EZA (SECO*): 1'186 Mio. Franken für bilaterale EZA mit «fortgeschrittenen» Entwicklungsländern,
  • RK 4: EZA Ostländer (DEZA+SECO): 1'025 Mio. Franken, davon 673 Mio. für Programme der DEZA und 352 Mio. für Programme des SECO,
  • RK 5: Menschliche Sicherheit (AMS*): 268 Mio. Franken für Frieden, Menschenrechte und Migration

*DEZA: Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit; SECO: Staatssekretariat für Wirtschaft; AMS: Abteilung Menschliche Sicherheit im EDA; IDA: Internationale Entwicklungsorganisation der Weltbank

Somit wird die von der DEZA in armen Ländern direkt eingesetzte, das heisst die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit wie bis anhin nur knapp 35 Prozent aller beantragten Gelder für die internationale Zusammenarbeit ausmachen. Pro Jahr sind es durchschnittlich etwas über 975 Millionen Franken.

Die «öffentliche Entwicklungshilfe» (APD) der Schweiz

Im politischen Streit um die Höhe der neuen Rahmenkredite argumentieren alle Seiten mit der sogenannten APD-Quote. Um den damit oft einhergehenden Missverständnissen entgegenzutreten, müssen die beiden Berechnungen geklärt werden.

Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Schweiz – UN-Mitglied seit September 2002 – die 0,7 Prozent Vorgabe nie offiziell anerkannt hat. Aber sie hat sie im Rahmen von Abkommen gutgeheissen, als sie den UN-Resolutionen zur Aktionsagenda von Addis Abeba zur Entwicklungsfinanzierung im Juli 2015 und zur Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung im Oktober 2015 zustimmte. In beiden Resolutionen bekräftigen die unterzeichnenden Geberländer ihre Verpflichtung, «die Zielvorgabe von 0,7 Prozent ihres BNE für die öffentliche Entwicklungshilfe zugunsten der Entwicklungsländer und 0,15 bis 0,2 Prozent ihres BNE zugunsten der am wenigsten entwickelten Länder zu erreichen».

Beschönigung der APD dank Asylkosten

Obwohl die Hilfswerke 2008 die Petition «0,7% – Gemeinsam gegen Armut» mit über 200'000 Unterschriften eingereicht hatten, setzte sich die Schweizer Politik nie ernsthaft mit der 0,7-Prozent-Vorgabe auseinander. Hingegen beschloss das Parlament im Februar 2011 eine schrittweise Erhöhung der APD-Quote auf 0,5 Prozent des BNE bis 2015 – ein realpolitischer Kompromiss anstelle der chancenlosen 0,7%-Forderung. Diese 0,5 Prozent erreichte die Schweizer APD dann 2015 und 2016 vorübergehend auch, in den letzten Jahren sank die Quote aber wieder auf 0,44 Prozent.

«Öffentliche Entwicklungshilfe» ist jedoch nicht gleich «internationale Zusammenarbeit». Erstere umfasst keineswegs nur die Gelder für die EZA und die humanitäre Hilfe von Bund, Kantone und Gemeinden. Die Richtlinien der OECD erlauben es, dass bei der APD darüber hinaus auch Ausgaben für Umwelt-, Friedens-, Menschenrechts- und internationale Sicherheitspolitik angerechnet werden dürfen – und für Aufwendungen für Asylsuchende in der Schweiz im ersten Jahr ihres Aufenthalts. Nur wegen dieser Asylkosten lag die APD-Quote 2015 und 2016 über 0,5 Prozent des BNE. Ohne diese Anrechnung wäre der Wert nie über 0,44 Prozent gestiegen und seit 2018 wieder bei 0,40 Prozent gelegen. Tatsächlich machen die IZA-Rahmenkredite durchschnittlich rund 80 Prozent der «öffentlichen Entwicklungshilfe» aus.

0,5 Prozent sofort – 0,7 Prozent mittelfristig

Grundsätzlich beschliesst das Parlament im Herbst über die Rahmenkredite, nicht über eine APD-Quote. Doch es kann seinen Entscheid von 2011 erneuern und an der 0,5 Prozent-Zielvorgabe festhalten, was von vielen Seiten gefordert wird. Das liesse sich dann aber nicht einfach auf die Rahmenkredite umrechnen. Denn die Quote beinhaltet zwei Variablen, die ausserhalb des Beschlusses zur IZA-Botschaft liegen: das BNE als Referenzgrösse und die Kosten im Asylbereich bzw. die Anzahl einreisender Asylsuchender.

Das Variable «BNE» lässt sich nicht ändern, hatte aber in den letzten Jahren wenig Auswirkungen, da sie meistens leicht anstieg. Doch jetzt geht das SECO als Folge der Corona-Pandemie bei seiner Konjunkturprognose vom 23. April für 2020 von einem Rückgang des Bruttoinlandprodukts um rund 50 Milliarden Franken aus (2019 lag es bei 699 Milliarden). 2021 würde es wieder um 38 Milliarden ansteigen. In den SECO-Szenarien für die Schweizer Konjunktur vom 8. April ist gar von einem Rückgang von 30 bis 170 Milliarden bis Ende 2021 die Rede. Dies wird sich entsprechend auf das BNE und damit auf die APD-Quote auswirken. Hinsichtlich der Variable «Asylkosten» steht seit längerem die Forderung im Raum, die Schweiz solle davon absehen, die im Inland anfallenden Asylkosten der «öffentlichen Entwicklungshilfe» zuzurechnen. Einerseits sei dies nicht sachgerecht, und zum anderen würde dadurch die APD-Quote endlich zu einer realistischen Messgrösse der Ausgaben für die Internationale Zusammenarbeit.

Angesichts der zunehmenden internationalen Herausforderungen (Armut und Ungleichheit, Klimawandel, Migration, und aktuell die Corona-Krise) ist das Parlament nun gefordert, eine Erhöhung der Gelder für die internationale Zusammenarbeit zu beschliessen, ausgehend von mindestens 0,5 Prozent des BNE und ohne Anrechnung der Asylkosten. Gleichzeitig soll es den Bundesrat darauf verpflichten, die Mittel schrittweise auf die internationale Norm von 0.7 Prozent zu erhöhen – bis spätestens in vier Jahren, wenn er seine IZA-Botschaft 2025-2028 vorlegen wird. Das wäre ein angemessenes und solidarisches Zeichen der wohlhabenden Schweiz und würde gleichzeitig ihrem langfristigen Eigeninteresse dienen.