Slovakia Crime LGBTQI+ | © AFP/Vladimir Simicek

Blinder Fleck der Politik: LGBTQI+

Es ist ein weiter Weg zur Selbstverständlichkeit
VON: Rebecca Vermot - 21. Oktober 2022
© AFP/Vladimir Simicek

In vielen Ländern führt Begehrensvielfalt und eine Selbstdefinition ausserhalb der tradierten Gendervorstellungen zu Diskriminierung und Gewalt, in einigen Ländern gar zur Todesstrafe. Das verstösst nicht nur gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In einer Welt, die 2015 mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung beschlossen hat, «niemanden zurückzulassen», haben homophobe, biphobe und transphobe Einstellungen keinen Platz mehr.  

Ein Outing als schwul, queer oder trans verändert das Leben der betroffenen Person und ist vielerorts der Beginn einer weiteren, schwierigen Reise. Es gibt Länder, wo ein solches Coming-out lebensgefährlich ist.  Neben Ermordung drohen häusliche Gewalt, Beschimpfungen, Schulausschluss oder Berufsverbot. In rund einem Drittel aller UNO-Mitgliedsländer wird gleichgeschlechtlicher Sex kriminalisiert.  

Eine EU-weite Umfrage zeigt, dass über die Hälfte der befragten Personen, die sich als LGBTQI+ definieren, sich nicht öffentlich dazu äussern. Über 60% tauschen in der Öffentlichkeit selten bis nie Zärtlichkeiten aus – schon nur Händchenhalten vermeiden sie. Ein Drittel spricht von No-Go-Areas, aus Angst, dort bedroht, belästigt oder gar angegriffen zu werden. 

Wie schwierig es für Personen ist, die sich als LGBTQI+ definieren, sich frei zu bewegen, zeigte sich jüngst in Belgrad: Ende August protestierten Orthodoxe zusammen mit Motorradgangs und Rechtsextremen gegen die geplante Euro Pride, die dieses Jahr in der serbischen Hauptstadt hätte durchgeführt werden sollen. Das Innenministerium verbot diese in der Folge und begründete den Bann damit, die Sicherheit der LBTQI+-Bewegung nicht garantieren zu können. Die Pride fand dennoch statt – verkürzt und begleitet von Scharmützeln mit Gegnern des Marschs.

LGBTQI+-Menschen wird oft aufgrund gesetzlicher und gesellschaftlicher Normen das Recht verwehrt, einen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit zu leben. EU-weit geben ein Viertel aller Befragten an, ihre sexuelle Orientierung, resp. ihre Genderidentität am Arbeitsplatz zu verbergen; in Osteuropa sind es gemäss einer Weltbankumfrage 64 Prozent. Allerdings ist Geheimhaltung nicht immer eine Option für Menschen, deren Aussehen und Ausdruck nicht den heteronormativen und patriarchalen Normen der Gesellschaft entsprechen.

Transmenschen, nicht-binäre und homosexuelle Personen stehen deshalb in allen Lebensbereichen vor grossen Hürden. Die Diskriminierungen reichen vom beiläufigen Scherz bis hin zu körperlicher Gewalt und zu Angriffen im öffentlichen Raum. LGBTQI+-Personen haben weniger Zugang zu Bildung, ihnen werden Arbeitsplätze verweigert und öffentliche Dienstleistungen wie eine adäquate Gesundheitsversorgung sind vielerorts nicht zugänglich.  

Anspruch vs. Wirklichkeit  

Antidiskriminierungsgesetze, die auch Hassverbrechen und Gewalt aufgrund der sexuellen Ausrichtung und/oder der Geschlechtsidentität verbieten, gibt es EU-weit. Die EU-Richtlinie zu Rechte und Schutz von Opfern beinhaltet den Diskriminierungsschutz auch aufgrund des «Ausdrucks der Geschlechtlichkeit, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Ausrichtung». Zurecht wird daher von Behörden und staatlichen Einrichtungen erwartet, dass sie die Rechte von LGBTQI+-Personen schützen und durchsetzen und den gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Diensten und Einrichtungen gewährleisten; auch Arbeitgeber sind verpflichtet, sich an die Antidiskriminierungsgesetze zu halten.  

Die Realität sieht jedoch oft anders aus. 43 Prozent der EU-weit befragten LGBTQI+-Personen geben an, dass Gewalt gegen ihresgleichen zugenommen hat – vor allem in Frankreich und Polen. Grund dafür sei sowohl der negative Drall im öffentlichen Diskurs – angefeuert von Politikerinnen und Politikern und ihren Parteien –, als auch fehlender Rückhalt in der Gesellschaft. Gesetze würden zudem nicht eingehalten oder sind nicht stringent. 

Gemäss dem «State-sponsored homophobia»-Bericht der internationalen LGBTI-Vereinigung kennt Nepal zum Beispiel zwar verfassungsrechtliche und gesetzliche Bestimmungen zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung, aber keine zum Schutz vor Aufstachelung zum Hass, Hassverbrechen und Konversionstherapie. In Bolivien schliesst dieselbe Verfassung, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verbietet, ausdrücklich die Möglichkeit aus, gleichgeschlechtlichen Paaren Rechte zu gewähren.  

Betroffene, die Gewalt erfahren, kennen den oder die Täter in vielen Fällen, wie die EU-Umfrage aufzeigt. Dies deutet darauf hin, dass die Gewalt oft aus dem näheren Umfeld kommt. Doch die wenigsten Fälle werden angezeigt, da Opfer Repressalien fürchten oder erwarten, dass die Behörden selbst diskriminierend sind oder gar mit Gewalt reagieren könnten. Angesichts der grossen Anzahl Länder, die gleichgeschlechtliche Liebe kriminalisieren, ist eine Flucht in Länder mit einer offeneren Gesellschaft oder zumindest mit mehr Rechtssicherheit oft der einzige Ausweg. Geflüchtete, die sich als LGBTQI+ definieren, fallen unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention. Die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität sind triftige Gründe für die Erteilung des Flüchtlingsstatus.  

Leave no one behind 

Weltweit gilt: Ein besserer gesetzlicher (Diskriminierungs-)Schutz und die Abschaffung kriminalisierender Gesetze sind zentral. Doch dafür braucht es auch einen gesellschaftlichen Umbruch – nicht nur in Ländern Osteuropas oder des Globalen Südens – auch hier in der Schweiz fühlen sich Menschen, die sich als LGBTQI+ definieren, oftmals nicht sicher. Wöchentlich werden Angriffe gemeldet. Und sogar Regierungsmitglieder nehmen sich die Freiheit, sich abschätzig und respektlos über Menschen zu äussern, die sich nicht klar als Frau oder als Mann definieren.  

Von denjenigen Befragten, die in der EU-Umfrage sagten, dass sich die Lage in ihrem Land den letzten fünf Jahren verbessert hat, glauben die meisten, dass die «Sichtbarkeit von LGBTI-Personen und ihre Teilnahme am Alltagsleben», ein wichtiger Faktor für die Fortschritte waren. Als weitere unterstützende Faktoren wurden genannt: «positive Veränderungen in Gesetzgebung und Politik» sowie «Unterstützung durch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Gemeindevertreter und Gesellschaft».  

Damit liegt auch auf der Hand, welcher Ansatz zum Ziel führen kann: AdvocacyEinstehen für diejenigen, deren Stimme nicht gehört wird. Also mit (politischem) Dialog auf allen Ebenen des Lebens. Die Basis dafür sind nicht nur die universell geltenden Menschenrechte, sondern auch die Agenda 2030, mit der sich alle Staaten der Welt 2015 dazu verpflichtet haben, niemanden, also auch nicht LGBTQI+-Menschen, zurückzulassen.

Wandel und Inklusion sind möglich. Der Staat und starke Institutionen sind dabei wichtige Treiber. Politikerinnen und Politiker tragen hier die grösste Verantwortung: Sie haben es in der Hand, kohärente Gesetze und Regeln zu erlassen. Gewählt werden diese von der Bevölkerung, die mit dem Wahlzettel den grössten Hebel in der Hand hat, um positive Veränderungen anzustossen. Aber auch Strafbehörden und die Justiz sind in der Pflicht, diese Gesetze und Regeln durchzusetzen. Wirtschaft und Gesellschaft spielen eine ebenso wichtige Rolle und nur gemeinsam können alle den Wandel vorantreiben.  

Redaktorin
Rebecca Vermot