Mary Bita Mwanga 13 Jahre an Machame Primary School, Moshi, Tansania | © Helvetas/Simon Opladen

Demografische Entwicklungen und die Agenda 2030

Bildung und Gesundheit bremsen das globale Bevölkerungswachstum
VON: Geert van Dok - 04. Juni 2021
© Helvetas/Simon Opladen

Würden die Ziele der Agenda 2030 für Bildung und Gesundheit bis in neun Jahren erfüllt und dann konstant eingehalten, könnte die Weltbevölkerung von heute 7,9 Milliarden bis ins Jahr 2100 auf 6,3 Milliarden zurückgehen, wie eine neue Studie zeigt. Allerdings wird es langfristige Strategien brauchen, um einer Überalterung der Weltgesellschaft entgegenzuwirken. Noch aber wächst die Weltbevölkerung.

Am 11. Juli ist Weltbevölkerungstag. Vor 34 Jahren – am 11. Juli 1987 – überschritt die Weltbevölkerung gemäss UNO-Berechnungen die Fünf-Milliarden-Grenze. Um auf die damit verbundenen Herausforderungen aufmerksam zu machen, erklärte die UNO dieses Datum 1990 zum Internationalen Weltbevölkerungstag. Die Situation hat sich seither verschärft; der 11. Juli ist aktueller denn je: Mittlerweile gibt es knapp 7,9 Milliarden Menschen und die Weltbevölkerung wächst weiter – Prognosen zufolge um bis zu zwei Milliarden bis 2050. Dabei konzentriert sich das Wachstum zunehmend auf die ärmeren Länder Afrikas und Westasiens, während die Zahlen anderswo stagnieren oder rückläufig sind.

Keine Bevölkerungsexplosion, aber Wachstum

Das Bevölkerungswachstum im globalen Süden wird von einigen Seiten immer wieder als eigentliche Ursache vieler ökologischer und sozialer Probleme betrachtet (z.B. Ecopop mit der Initiative «Stopp der Überbevölkerung»). Inzwischen wird oft behauptet, es könne nichts gegen den Klimawandel unternommen werden, solange das Wachstum der Weltbevölkerung nicht gestoppt werde. Gegen diesen Mythos wehrt sich zurecht auch die Klimastreik-Bewegung: Weder ist «das Bevölkerungswachstum an der Klimakrise schuld, noch gibt es sowas wie Überbevölkerung.»

Die Vorstellung einer «Bevölkerungsexplosion» hat eine lange Geschichte voller Vorurteile und neokolonialer Besserwisserei. Befeuert wird dies durch mediale Bilder mit grossen Ansammlungen von Kindern, die den Eindruck erwecken, grosse Teile des globalen Südens seien überbevölkert und es müsse vor allem darum gehen, die dortigen Fruchtbarkeitsraten zu senken. Die Realität ist eine andere: In Subsahara-Afrika leben aktuell 50 Personen pro km2 – in der Schweiz sind es 215.

Bevölkerungsentwicklung ist jedoch nicht gleich Höhe der Kinderzahl. Tatsächlich hängt sie von mehreren komplexen Faktoren ab. Entsprechend gross ist die Bandbreite der UNO-Wachstumsszenarien: Bei der mittleren von drei Varianten prognostiziert die UNO für 2050 rund 9,7 Milliarden und bis Ende des Jahrtausends 10,9 Milliarden Menschen. Die Werte der hohen Variante liegen bei 10,6 (2050) und 15,6 Milliarden (2100), während die tiefe Variante von 8,9 Milliarden Menschen im Jahr 2050 ausgeht und dann einen Rückgang auf 7,3 Milliarden bis 2100 annimmt.

Faktoren des Bevölkerungswachstums

Die Bedeutung des Bevölkerungswachstums darf nicht wegdiskutiert werden. Doch es braucht einen nüchternen Blick auf die vier direkten Einflussfaktoren. Es sind dies: die Lebenserwartung bei der Geburt, die Säuglingssterblichkeit, die Fruchtbarkeitsrate und das Durchschnittsalter der Bevölkerung. Diese Faktoren sind eng miteinander verknüpft: Dank verbesserter Gesundheitsversorgung sind die Säuglings- und Müttersterblichkeit in den letzten Dekaden überall deutlich zurückgegangen. Damit stieg überall die Lebenserwartung und die Bevölkerung wächst. Sinkt die Fruchtbarkeitsrate, bremst dies das Wachstum deutlich. Eine hohe Anzahl junger Frauen in der Gesellschaft bewirkt wiederum das Gegenteil. Diese Faktoren variieren je nach sozio-ökonomischen und kulturellen Verhältnissen eines Landes. Dabei ist ein Hauptgrund für das Bevölkerungswachstum die fehlende Gleichberechtigung der Geschlechter in vielen Ländern. Allgemein kann gesagt werden, dass das Bevölkerungswachstum erst zurückgehen wird, wenn höhere Lebenserwartung in Verbindung mit einem existenzsichernden Einkommen und tiefere Fruchtbarkeitsraten die Alterspyramide verändern. Dafür braucht es Bildungsangebote und Gesundheitsversorgung für alle.

Im Zentrum der Diskussionen steht die Gesamtfruchtbarkeitsrate in einer Gesellschaft. Diese sogenannte Total Fertility Rate (TFR) steht für die durchschnittliche Anzahl von Kindern, die eine Frau in ihrem Leben gebärt. Statistisch gesehen müsste sie wegen der Kindermortalität bei 2,1 Kindern liegen, wenn die Grösse einer Gesellschaft stabil bleiben soll. Allerdings wird dies nicht allein von der TFR bestimmt, wie das Beispiel der Schweiz zeigt: Obwohl ihre TFR seit Jahrzehnten weit unter 2,1 und aktuell bei 1,52 Kindern liegt, wuchs die Gesamtbevölkerung 2020 um 0,7 Prozent. Denn Menschen bleiben länger gesund und werden älter, was zu einem leichten Geburtenüberschuss führt. Zusätzlich ist der Wanderungssaldo (Differenz zwischen Zu- und Abwanderung) nach wie vor positiv.

Die Bremswirkung der Agenda 2030

In einer Lancet Studie von 2020 wurde das weltweite Bevölkerungswachstum unter Verwendung aktueller Daten für die Burden of Deseases Study neu berechnet. Im neu entworfenen «Szenario 2100» liegen die Werte deutlich tiefer als bei den früheren UNO-Prognosen. Die Weltbevölkerung werde gemäss der mittleren Variante im Jahr 2064 mit 9,73 Milliarden Menschen ihren Höhepunkt erreichen und bis zum Jahr 2100 auf 8,79 Milliarden zurückgehen, rund 2 Milliarden weniger als bei der mittleren UN-Prognose. Die neuen Zahlen basieren auf Schätzungen zur TFR, die vor allem dank steigendem Bildungsstand der Frauen und dem Zugang zu Verhütungsmitteln von heute 2,37 auf 1,66 zurückgehen dürfte.

In der Studie wird darüber hinaus ein alternatives Szenario entwickelt, das die Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (SDGs) besonders berücksichtigt, speziell hinsichtlich Bildung und Verhütung: Dabei geht es einerseits um das SDG 4 für eine inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung, speziell um die Teilziele 1-3 für Mädchen (Zugang zu frühkindlicher Erziehung und zu Grund- und Sekundarbildung) und Frauen (Zugang hochwertiger beruflicher Bildung). Andererseits betrifft es das SDG 3 für ein gesundes Leben und Wohlergehen für alle Menschen. Neben der Senkung der Müttersterblichkeit (3.1) und der Säuglingssterblichkeit (3.2) will Teilziel 3.7 «bis 2030 den allgemeinen Zugang zu sexual- und reproduktionsmedizinischer Versorgung, einschliesslich Familienplanung, Information und Aufklärung (…) gewährleisten». Diese Kombination von guter Bildung und flächendeckendem Zugang zu Verhütungsmitteln würde schon in kurzer Zeit zu einem deutlichen Rückgang der Fruchtbarkeitsrate führen.

Die Autorinnen und Autoren der Studie haben dafür ein «SDG Szenario» erstellt, das zeigt, wie die Bevölkerungsentwicklung bis 2100 aussehen könnte, würde jedes Land die genannten SDGs tatsächlich bis 2030 erfüllen und sie dann bis Ende des Jahrhunderts konstant einhalten. Die Ergebnisse sind eindrücklich. Eine erfolgreiche Umsetzung der Agenda 2030 könnte bewirken, dass die Weltbevölkerung von heute 7,9 Milliarden bis 2100 auf 6,3 Milliarden zurückgehen würde. Die Fruchtbarkeitsrate würde in diesem «SDG Szenario» von heute 2,37 auf 1,52 Kinder sinken. Und in Subsahara-Afrika, das heute rund 1,1 Milliarden Menschen zählt, würden in 80 Jahren knapp 1,6 Milliarden Menschen leben – und nicht über 3,8 Milliarden, wie heute meist prognostiziert wird.

Es braucht eine Politik der nachhaltigen Entwicklung

Tatsache ist, dass die meisten Länder den Zielen der Agenda 2030 hinterherhinken. Und würden sie die SDGs doch erfolgreich umsetzen, dies hätte auch seinen Preis: Gesellschaften würden deutlich schneller altern und viele Länder, deren Bevölkerung heute schon schrumpft, würden überaltern. Doch unabhängig davon wird die Weltbevölkerung gemäss der Berechnungen in der Lancet Studie ihren Höhepunkt deutlich vor Ende des Jahrhunderts erreichen. Der globale Bevölkerungsrückgang wird sich, sobald er einmal begonnen hat, unaufhaltsam fortsetzen.

Doch zuwarten wäre falsch: Die künftige demografische Entwicklung ist nicht in Stein gemeisselt, sondern lässt sich gestalten. Länder können den Verlauf von Fertilität, Mortalität und Migration verändern. Bevölkerungsstruktur, -grösse und -zusammensetzung sind keine unbeeinflussbaren Faktoren, sondern immer das Ergebnis eigener politischen Massnahmen. Dies bedarf jedoch Strategien für eine nachhaltige Entwicklung im Interesse der ganzen Bevölkerung. Auch dafür steht der Aufruf zur «Transformation unserer Welt» der Agenda 2030.