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Doch noch eine kleine Oktoberrevolution

Einschätzungen nach den Eidgenössischen Wahlen 2019
VON: Peter Niggli - 31. Oktober 2019
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Die Eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober haben im Parlament zu neuen Kräfteverhältnissen geführt. Die gestärkten grünen Kräfte sollten die Klima-, Entwicklungs- und Aussenpolitik der Schweiz den realen Erfordernissen und internationalen Abkommen wieder näherbringen können. Ein Rückblick von Peter Niggli, dem früheren Geschäftsleiter von Alliance Sud, zeigt, wo in den vergangenen Jahrzehnten die falsche Richtung eingeschlagen wurde.

1987: Medien und Umfrageinstitute bezeichneten die damaligen Eidgenössischen Wahlen im Vorlauf als «Hoffnungswahlen», die eine grüne Wende nach sich ziehen würden. Ökologisch gesinnte Bürgerliche würden gewählt und die Grünen signifikant gestärkt. Diese hatten in den Zürcher Wahlen vom Frühjahr 1987 18 Sitze gewonnen. Die öffentliche Diskussion prägten damals Tschernobyl, der Chemieunfall in Schweizerhalle und das Waldsterben – die Prognose schien also ziemlich plausibel.

Die Wahlresultate im Oktober 1987 waren eine kalte Dusche. Was die Grünen gewannen, ging sitz- und prozentmässig voll auf Kosten der SP; die bürgerlichen Parteien stagnierten. Von einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse konnte keine Rede sein. Die wenigen umweltinteressierten bürgerlichen Parlamentsmitglieder, meist Frauen, hatten nachher in ihren Fraktionen einen schweren Stand. Dafür kam 1987 neu die anti-ökologische Auto-Partei in den Nationalrat, welche später von der SVP geschluckt wurde.

Damals setzte ich, noch als freier Journalist, über meinen Wahlbericht für eine deutsche Zeitung den Titel «Die Oktoberrevolution fand nicht statt». Diese Geschichte war mir in den vergangenen Monaten ständig präsent und hat meine Erwartungen gezügelt. Aber nun das! Doch noch eine kleine Oktoberrevolution! Was die neue politische Konstellation bewirken wird und kann, bleibt abzuwarten. Klar ist, was wir hinter uns lassen.

Die reaktionärste Legislatur

Als Chef von Alliance Sud habe ich mich zwischen 1997 und 2015 über fünf Legislaturen hinweg berufsmässig mit der Schweizer Politik beschäftigt. In dieser Zeit hatte ich keine derart verhärtete rechte Parlamentsmehrheit erlebt wie diejenige, die jetzt ans Ende kam. Ihren Kern bildete seit den Wahlen 2015 die Mehrheit aus SVP und FDP im Nationalrat. Sie wurde von Economiesuisse und der NZZ tatkräftig und von der CVP manchmal unterstützt. Was vorher noch möglich gewesen war, zum Beispiel die Erhöhung des Entwicklungsbudgets auf 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens im Jahr 2011, wäre in den vergangenen vier Jahren völlig illusorisch gewesen.

2015/16, in den Flitterwochen, wollte die neue Machtkonstellation ganz andere Ziele erreichen, nämlich:

  • den Bundeshaushalt stark zurückfahren. Blocher hielt eine Reduktion um 30 Prozent ohne spürbare Auswirkungen für machbar. Seine Partei verlangt bis heute, mindestens das Entwicklungsbudget um einen Drittel zu kürzen;
  • die Abschaffung der Holdingprivilegien, welche die EU ultimativ verlangt hatte, für eine Unternehmenssteuerreform nutzen, die allen Unternehmen neue Steuergeschenke gewährt;
  • den Arbeitsmarkt flexibilisieren und die flankierenden Massnahmen aufbrechen;
  • Unternehmen im öffentlichen Besitz privatisieren (Briefpost, Postfinance, Kantonalbanken, Swisscom, Schienenverkehr und Energieerzeuger) und
  • Regulierungen abbauen – letzteres das Steckenpferd des Gewerbeverbandes bzw. seines Direktors Hans-Ulrich Bigler, der nun abgewählt wurde.

Einiges davon ist in den Mühlen der Referendumsdemokratie steckengeblieben. Zudem waren sich die Sieger von 2015 in einem wesentlichen Punkt uneinig: Bei den bilateralen Beziehungen zur EU und der 2014 angenommenen Masseneinwanderungsinitiative der SVP. Deren wortgetreue Umsetzung hätte zur Kündigung des Freizügigkeitsabkommens und der bilateralen Verträge geführt.

In der fiebrigen Zeit vor den ersten Krächen und Niederlagen an der Urne sahen sich die Vordenker einer nationalkonservativen Wende durch zwei Ereignisse bestärkt. 2016 votierte in Grossbritannien eine Mehrheit für den Austritt aus der EU. Und Donald Trump gewann die Präsidentschaftswahlen. Markus Somm (damals Basler Zeitung) und Roger Köppel waren entzückt. Somm pries den Sieg Trumps unter dem Titel: «Friede den Hütten, Krieg den Palästen – Amerika hat gewählt: Die Revolution» (BaZ 09.11.2016). Und Köppel gestand in seiner Weltwoche: «Als die Wahlnacht auf das unglaubliche […] Endergebnis zulief, ertappte ich mich bei spontanen, etwas peinlichen Jubelausbrüchen. Bei jeder Wasserstandsmeldung, die Trump vorne zeigte, tanzte ich mit geballter Faust durchs Büro. Was sich in dieser Wahlnacht abspielte, ist ein politisches Wunder, ein Befreiungsschlag, noch unwahrscheinlicher und daher grösser als der Brexit, eine ideologische und demokratische Revolution» (10.11.2016).

Die Kräftekonstellation der letzten Legislatur war das Ergebnis des langen Marsches der SVP zur Macht. Das begann nach den Wahlen 1999, als die SVP erstmals mit 22,6 Prozent Wähleranteil stärkste Partei wurde. Unternehmerverbände hofften danach, mit einer starken SVP und der FDP im Schlepptau ihr wirtschaftspolitisches Wunschprogramm durchsetzen zu können. Sie rollten, wie ich damals an verschiedenen Kommissionssitzungen beobachten konnte, vor Christoph Blocher den roten Teppich aus. Meine wiederholte Frage, was sie denn gegen seine Ausländerhetze und EU-Politik, die beide ihren Interessen zuwiderliefen, unternehmen möchten, blieb unbeantwortet. Die Wahlen von 2003 brachten dann den Durchbruch: Die SVP gewann 27 Prozent, Christoph Blocher wurde Bundesrat.

Fehlentwicklungen in Aussen- und Entwicklungspolitik

Im Aussenministerium und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) hinterliessen die 16 Jahre seit Blochers Wahl tiefe Spuren. Walter Fust, der letzte Deza-Chef, der diese integral verteidigt hatte, wurde 2008 aus dem Amt gedrängt. SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, damals Aussenministerin, hoffte mit seinem Rücktritt den rechten Kritikern ihrer Politik Wind aus den Segeln zu nehmen. Die FDP-Bundesräte Didier Burkhalter und Ignazio Cassis haben in den Folgejahren die Kompetenzen der Deza und ihrer Direktoren systematisch beschnitten und deren verwaltungsrechtlichen Status als Bundesamt faktisch abgeschafft – ohne allerdings die Rechtsgrundlage anzupassen. Deza-Ressourcen und Personal verwaltet nun eine andere Direktion des EDA; die operativen Büros der Deza in den Schwerpunktländern wurden den jeweiligen Botschaftern unterstellt; ihre Öffentlichkeitsabteilung abgeschafft. Seither sollte die zentrale Kommunikationsabteilung des Departements über die Deza informieren. Das tut sie aber nicht. Stattdessen berichtet die Zentrale über jeden Auftritt und jede Rede des Aussenministers. Von der konkreten Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz hört die Bevölkerung fast nichts mehr.

Ignazio Cassis wurde 2017 knapp als Wunschkandidat der harten Rechten in den Bundesrat gewählt. Burkhalter hatte sich vorher erlaubt, ab und zu auch gegen seine SVP- und FDP-Kollegen zu stimmen. Cassis nicht. In diesem Sinne vollendete seine Wahl den rechtsbürgerlichen Sieg in den Parlamentswahlen von 2015.

Jetzt, Ende 2019, können die Entwicklungsorganisationen hoffen, dass die neue Kräftekonstellation im Parlament – nebst den grossen Brocken Klimapolitik, EU-Rahmenabkommen und Sozialversicherungen – die aussen- und entwicklungspolitischen Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre korrigiert. Das betrifft auf alle Fälle die neue Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit mit den Rahmenkrediten 2021-2014, die nächstes Jahr vors Parlament kommt, und die Hilfe an die armen Länder für Klimaschutz und Anpassungsmassnahmen, die bislang, entgegen den internationalen Vereinbarungen, zulasten des Entwicklungsbudgets finanziert werden.

© Maurice K. Grünig / Helvetas
Vize-Präsident des Helvetas Vorstands
Im Vorstand und im Beirat seit 2015