«Wir waren nie besser vorbereitet auf Krisen»

Mit Blick auf die langfristige menschliche Entwicklung ist die Welt ein besserer Ort, als viele glauben. Davon ist Anna Rosling Rönnlund überzeugt – trotz der aktuellen Weltlage. Sie ist Vizepräsidentin der bekannten Gapminder Foundation in Schweden und Mitautorin des Bestsellers «Factufulness» und sagt, es gebe mehr Möglichkeiten denn je, Armut zu bekämpfen und Startchancen zu verbessern.
VON: Rebecca Vermot, Lia Perbo - 01. Dezember 2022

2017 lieferten Sie in Ihrem Buch «Factfulness» zehn Gründe, wieso die Welt ein besserer Ort ist, als viele von uns meinen. Sind
Sie angesichts der aktuellen Krisen immer noch so optimistisch?


Im Grossen und Ganzen würde ich sagen: Ja. Zugleich gibt es Rückschritte, das zeigen auch die Daten. Etwa bei der Lebenserwartung wegen der Pandemie. Aber ich denke nach wie vor, dass die menschliche Entwicklung hin zum Besseren sich nicht ins Gegenteil kehren wird. Es ist immer schwierig, nicht so zu klingen, als ob ich etwas kleinreden würde. Aber wir werden nicht an den Punkt zurückkehren, wo wir vor 100 oder 50 Jahren waren. Hoffentlich nicht mal dahin, wo wir vor 10 Jahren standen. Wir müssen globale Trends aus einer langfristigen Perspektive anschauen. Sie unterliegen gewissen Schwankungen.
Und ja, wir sollten bei Negativtrends besorgt sein und Lösungen suchen. Aber der offizielle «Human Development Index» wird sich früher oder später weiter verbessern, es wird den Menschen besser gehen, denn wir sind heute so gut ausgebildet wie noch nie. Und wir haben aus Fehlern gelernt. Schlussendlich geht es darum, die existierenden Probleme nicht zu leugnen, und gleichzeitig den Blick für das grosse Ganze und langfristige Trends nicht zu verlieren. Sonst werden die Leute zu deprimiert und
engagieren sich gar nicht mehr.

«Wir dürfen die existierenden Probleme nicht leugnen und gleichzeitig den Blick für das grosse Ganze und langfristige Trends nicht verlieren. Sonst werden die Leute deprimiert und engagieren sich nicht mehr.»

Anna Rosling Rönnlund

Anna Rosling Rönnlund ist eine schwedische Soziologin, Datenvisualisiererin und Fotografin und hat zusammen mit ihrem Schwiegervater Hans Rosling und ihrem Mann Ola Rosling die Stiftung «Gapminder» ins Leben gerufen, mit dem Ziel, Statistiken verständlich darzustellen. Im Buch «Factfulness» und auf ihrer Website zeigen die Roslings anhand öffentlich zugänglicher Statistiken auf eindrückliche Weise auf, wie es um die Welt – basierend auf Fakten – wirklich bestellt ist. Und dass die Einschätzung der Öffentlichkeit oft viel zu pessimistisch ist. Dafür stellen sie Tausenden von Menschen Fragen wie z.B.: «1980 lebten rund 40 % der Weltbevölkerung in extremer Armut mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag. Wie viele sind es heute? 10 %? 30 %? 50 %?» Von den befragten Menschen haben 92 % die Frage falsch beantwortet.
Die richtige Antwort lautet: 10 %. Auch Sie können ihr Wissen testen: gapminder.org

© Jann Lipka

Sie sprechen über die langfristige Perspektive. Aber viele Menschen leiden jetzt – in Pakistan, der Ukraine oder Somalia. Wie kann die Weltgemeinschaft helfen?


Wenn etwas so Schlimmes wie die Invasion in die Ukraine passiert, ist das Risiko gross, dass die meisten reichen Länder dasselbe tun wie Schweden: erhebliche Mittel, die eigentlich an die Ärmsten der Welt gehen müssten, an die Ukraine umverteilen. Ja, die Menschen dort brauchen dringend sofortige Hilfe. Aber um Ressourcen angemessen zu verteilen und dabei niemanden zu vernachlässigen, müssen wir die richtigen Entscheidungen treffen. Das ist nur möglich, wenn Entscheidungen auf Daten basieren. Auf Fakten. Daten helfen uns, Verhältnisse richtig einzuschätzen, damit Geld zu den richtigen Personen am richtigen Ort kommt. Wenn wir uns nicht an Daten orientieren, werden wir uns immer nur auf ein Problem auf einmal konzentrieren. Ja, wir müssen die Ukraine unterstützen, aber nicht auf Kosten der Ärmsten, die weit weg sind, die hier keine Stimme haben, die wir nicht sehen. Wenn wir nur auf ein Problem aufs Mal fokussieren, statt uns von weltweiten Daten leiten zu lassen, gehen viele Menschen vergessen.

Wie bringen wir also die Allgemeinheit dazu, Menschen in extremer Armut zuzuhören?


Ganz ehrlich, ich weiss es nicht. Ich glaube, wir sollten aufhören, auf dramatische und traurige Geschichten zu fokussieren und dafür eher langfristige Erfolge kommunizieren. Die letzten zwanzig Jahre anschauen: Wie hat sich das Leben seither verbessert? Wie gut ist es uns gelungen, extreme Armut und Hunger zu bekämpfen? Gesundheit durch Impfungen und den Zugang zu Elektrizität zu verbessern? Das Bildungsniveau zu erhöhen? Wir sind zwar noch nicht fertig, aber viele Länder waren vielerorts
erfolgreich.
Viele Leute glauben allerdings noch immer, nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung hätte fliessendes Wasser, sanitäre Einrichtungen, Bildung und so weiter. Und deshalb denken sie, dass es enorm viel kostet, Menschen aus der Armut zu befreien. Wenn sie realisieren würden, dass wir viel weniger Menschen als gedacht helfen müssen, dann wären die Mittel leichter zu bekommen. Armut kann bekämpft werden.

«Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass wir jetzt plötzlich aufhören, zusammenzuarbeiten, erfinderisch zu sein, zu träumen, uns weiterzuentwickeln und zu verbessern.»

Anna Rosling Rönnlund

Gibt es trotz Grund zu Optimismus Risiken, die die menschliche Entwicklung definitiv umkehren könnten?


Ich fürchte ja. Wenn der Krieg in der Ukraine sich intensiviert und weiter ausbreitet, besteht die Gefahr, dass der Krieg sehr lange andauern wird und andere Länder hineingezogen werden. Das wäre in vielerlei Hinsicht sehr dramatisch. Die Wirtschaft könnte zusammenbrechen. Dann der Klimawandel… Die Risiken sind real, wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt der Weltgeschichte. Wie können wir gemeinsam Lösungen erarbeiten, wenn wir mit multiplen Krisen konfrontiert sind? Positiv ist, dass wir Menschen alles nutzen können, was wir in den letzten hundert Jahren gelernt und erreicht haben. Wir sind gereist
und gut vernetzt. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass wir jetzt plötzlich aufhören, zusammenzuarbeiten, erfinderisch zu sein, zu träumen, uns weiterzuentwickeln und zu verbessern. Es passiert derzeit viel Schreckliches, aber wir waren noch nie so gut darauf vorbereitet, die verschiedenen Krisen zu bewältigen, wie jetzt mit all den neuen Kommunikations- und Kollaborationsmöglichkeiten. Insgesamt bin ich also nach wie vor optimistisch.

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