Fünf überraschende Familienbeziehungen, die Sie so vermutlich noch nicht kannten

Kleinfamilie oder Mehrgenerationenhaushalt, alleinerziehend, Regenbogen- oder Patchworkfamilie – so bunt kennen wir Familien in unseren Breitengraden. Andernorts gibt es weitere Verbindungen, die Familienbande der besonderen Art darstellen.
VON: Susanne Strässle, Rebecca Vermot - 14. April 2021

1. Verbindender Spott

In zahlreichen westafrikanischen Gesellschaften sind Ethnien einander durch eine Scherzverwandtschaft, «parenté à plaisanterie» genannt, zu Solidarität verpflichtet. Verbindend ist dabei nicht reale Verwandtschaft, vielmehr führen sie ihre besondere Beziehung auf einen in grauer Vorzeit zwischen den Völkern eingegangenen Pakt zurück. Bei einer Begegnung wird das Gegenüber angepöbelt und mit Spott eindeckt. Die Idee ist, durch dieses «Ventil» Situationen zu entschärfen, die zu Konflikten ausarten könnten. Diese Scherzbeziehungen zwischen Fremden gelten heute in den Ländern als anerkanntes kulturelles Erbe.

Auf Aussenstehende kann die Sprache grob wirken: Wörter wie Rinderdieb oder Katzenschwanzfresser sind noch Nettigkeiten.

 

Doch die Unverblümtheit stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Auch innerhalb von Familien gibt es Scherzverwandtschaften. Sie stärken Banden zwischen den Generationen sowie Angeheirateten und Familie, etwa zwischen Grossvater und Enkel oder Schwägerin und Schwager, und erlauben so auch einen scherzhaften Umgang mit potentiell schwierigen Themen.

2. Bündnis über Generationen

In Nepal können zwei Frauen oder zwei Männer, die sich sehr nahestehen, eine «mit» genannte Freundschaftsbeziehung eingehen, eine Art formelle, lebenslange «Blutsbruder- bzw. Blutsschwesternschaft». Sie beruht auf einem persönlichen Bündnis zwischen den zweien, hat jedoch Folgen für die beiden Familien, ja sogar für nachfolgende Generationen. Die beiden mit-Verbundenen können alle rituellen Aufgaben eines echten Bruders oder einer echten Schwester füreinander übernehmen. Und ihre Familien sind fortan ähnlich verbunden wie verwandte oder verschwägerte Familien. Heisst, es bestehen auch ohne rechtliche Vereinbarung verbindliche moralische Rechte und Pflichten. Man unterstützt sich, steht sich in der Not bei, betreibt bevorzugt miteinander Geschäfte und gewährt sich Gastfreundschaft.

Ein mit-Bruder wird zudem zum mit-Vater der Kinder des Verbündeten. 

 

Die Kinder der beiden Familien bleiben einander auch künftig verbunden. Wie blutsverwandte Geschwister dürfen sie nicht untereinander heiraten.

3. Zweimal Eltern sein

HIV/Aids hat weltweit Millionen von Kindern die Eltern genommen – und unzählige Grosseltern ein zweites Mal zu Eltern gemacht. In afrikanischen Gesellschaften, wo sich traditionell die erwachsenen Kinder um ihre Eltern kümmern, wird das soziale Gefüge besonders stark herausgefordert. 

Nach dem Tod ihrer erwachsenen Kinder müssen die «verwaisten Eltern» oft mehr Enkel grossziehen als einst eigene Kinder, weil die Enkel mehrerer Töchter und Söhne ihre Betreuung brauchen.

 

Das bedeutet, dass die ältere Generation wieder aktiv ins Erwerbsleben einsteigen und Feld- und Hausarbeiten erledigen muss, um die Kinder zu versorgen und in die Schule zu schicken – eine grosse physische und psychische Belastung für viele ältere Menschen. In Kenia ist ein Dorf entstanden, wo Grosseltern und Aidswaisen der eigenen, aber auch aus fremden Familien zusammenleben und sich gegenseitig unterstützen. Erwachsene mittleren Alters sucht man in Nyumbani vergebens.

4. Kinder im Familiennetz

In Afrika und auch in Asien kommt es relativ häufig vor, dass Kinder nicht bei den Eltern, sondern bei Verwandten leben. Kinder werden stärker als Teil der ganzen Verwandtschaft angesehen, und der Aufenthalt bei Verwandten festigt das Familiennetzwerk. Manch kinderreiche Familie schickt ein Kind zu kinderlosen Verwandten. Der Entscheid hat aber häufig auch alltagspraktische Gründe: etwa um Kindern Zugang zu (besseren) Schulen und Ausbildungen zu ermöglichen. Oder sie zu schützen, wenn die Heimatregion zu unsicher ist. Oft ziehen ältere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu Verwandten in der Stadt, um Arbeit zu finden.

Für Südafrika wurde geschätzt, dass 2002 jedes vierte Kind von beiden Elternteilen getrennt lebte. 

 

Fachleute sprechen von «erweiterten Haushalten», wenn Familien durch solch alternative Formen des Zusammenlebens Wege suchen, Armut zu bekämpfen, die Kinderbetreuung sicherzustellen und Zugang zu Bildung und Arbeit zu erlangen.

5. Frauen heiraten Frauen

In traditionellen Gesellschaften in vielen Regionen Afrikas können ältere Frauen junge Frauen heiraten. Als einer der Gründe für diese sogenannte Gynaegamie wird ein Frauenüberschuss genannt. Weiter kann es sein, dass die ältere Frau verwitwet ist und Unterstützung braucht. Oder sie ist, obwohl vielleicht mit einem Mann verheiratet, kinderlos und wünscht sich Nachfahren. Oder sie will Besitz weitervererben. Für junge Frauen kann das Bedürfnis nach Nahrung, Schutz und einem sicheren Dach über dem Kopf ein Grund für eine Frauenehe sein. Dabei übernimmt die ältere Frau den Status eines Mannes. 

Je nach Gesellschaft muss sie sich dafür einer Zeremonie unterziehen, die sie rechtlich – nicht physisch – zum Mann erklärt.

 

Frauenheiraten in diesem Kontext gelten nicht als gleichgeschlechtliche Ehe, Sexualität ist kein Kriterium. Beteiligte Frauen können mit Männern sexuelle Beziehungen eingehen, allerdings gilt für allfällige Kinder die ältere Frau als gesetzlicher Vater mit allen Rechten und Pflichten.

Illustrationen: Priska Wenger

Leiterin Content & Redaktionsleiterin Magazin «Partnerschaft»
Susanne Strässle
Redaktorin
Rebecca Vermot