Die Weltlage ist zum Verzweifeln, Rechtspopulisten spalten die Gesellschaft und machen Fremde zu Sündenböcken. Die deutsch-ukrainische Pädagogin, Psychologin, Autorin und bekannte Speakerin Marina Weisband erklärt im Gespräch, was gegen Ohnmacht hilft.
Marina Weisband, wie schauen Sie auf die aktuelle Weltlage?
Wir leben in Zeiten grosser Umbrüche und international wachsendem Faschismus. Im Buch «Herr der Ringe» kämpft der kleine Frodo verzweifelt gegen das Böse und sagt: «Ich wünschte, all das wäre nie passiert», und Gandalf, der Weise, antwortet: «Das tun alle in solchen Zeiten. Aber es liegt nicht in ihrer Macht, das zu entscheiden. Du musst nur entscheiden, was du mit deiner Zeit anfangen willst». Und das ist, wie ich auf die Weltlage blicke. Ich selbst bin da aktiv, wo ich Einfluss nehmen kann. Ich will Menschen stärken, durch solche Krisen gehen zu können: organisatorisch und psychisch.
Weshalb?
Ich habe eine Migrationsgeschichte. Meine jüdische Familie hat den Holocaust erlebt. Ich habe Krisen erlebt, die für mich fast das Ende der Welt bedeutet haben. Aber ich hatte Glück, habe Hilfe gefunden und so gelernt, dass es ein Morgen gibt.
Also gibt Hilfe Zuversicht?
Allem voran Solidarität. Sie ist auch politisch wichtig. Menschen wählen auch deshalb rechtspopulistische Parteien, weil sie sich hilflos und nicht gebraucht fühlen. Je gestresster wir sind, umso mehr neigen wir bei Problemen zu einfachen Erklärungen und fallen auf Populismus rein. Sind wir jedoch entspannt, können wir uns eher in andere versetzen oder durchhalten. Wenn ich Kontakt zu Mitmenschen aufbaue, der Nachbarin einen Teller Suppe bringe, jemanden um einen Gefallen bitte, ihnen das Gefühl gebe, gebraucht zu werden, fühlen sich Menschen nicht isoliert, sondern eingebunden. Das stärkt uns alle. Und wenn ich mit Nachbar:innen gemeinsam die Sitzbank vor unserem Haus bemale und unser Umfeld gestalte, gebe ich ihnen das Gefühl, etwas bewirken zu können.
Selbstwirksamkeit durch Gestalten?
Wann immer ich mich ohnmächtig fühle, sticke, male und nähe ich. Gestalte ich Dinge, kann ich Schönheit in die Welt bringen, und mich dadurch auch handlungsfähig fühlen. Ich bin beispielsweise krankheitsbedingt oft auf einen Rollstuhl angewiesen. Wenn ich ihn schmücke, erlange ich die Kontrolle über die Krankheit, nicht umgekehrt. Wir wissen auch von KZ-Überlebenden, das Kultur, Schönheit und gegenseitige Hilfe es war, was ihnen am meisten geholfen hat, zu überleben.
Menschen handlungsfähig zu machen, ist auch Ziel Ihres Projekts «aula», das demokratische Kompetenzen von Schüler:innen fördert.
Ja. Ich erlebe an Schulen oft, was die Psychologie «Erlernte zu Hilflosigkeit» nennt: Schüler:innen, die das Gefühl haben, nichts bewirken zu können und damit auch ihre Motivation verlieren, Dinge anzupacken. Diese Hilflosigkeit lernen wir früh: In der Schule haben wir stillzusitzen, in Prüfungen Dinge zu schreiben, die von uns erwartet werden. Wir begreifen uns im Alltag oft als «Empfänger:innen» eines Umstandes, als Opfer, Besucherinnen oder Konsumenten. Aber zu einer gesunden Demokratie gehört, dass wir uns als Gestalter:innen fühlen.
Was hat Gestalten mit Demokratie zu tun?
Die Schüler:innen lernen im Projekt, eigene Ideen zu entwickeln, um ihr Umfeld zu verbessern. Sie müssen Mehrheiten dafür finden und gemeinsam die Umsetzung beschliessen. Heute geht es vielleicht darum, ein Schulfest zu organisieren. Morgen um die Hausordnung oder die Art, wie Unterricht auch noch stattfinden könnte. Schüler:innen, die Selbstwirksamkeit erfahren, werden später kritischer denken, transparente Prozesse fordern oder Fragen an die Politik stellen. Jede Form von Gestalten ist deshalb auch ein politischer Akt.
Welche Rolle haben Medien?
Ich rate zu weniger, bewussterem Medienkonsum. Zwischen relevanten Nachrichten verbirgt sich viel Lärm. Lärm, der von Menschen wie Trump oder Putin gewollt ist, um permanent Aufmerksamkeit zu generieren. Die Geschichte zeigt, dass Medien nicht wirklich gut darin sind, Faschismus abzuwehren; das zeigt sich auch in Deutschland wieder. Wirklich dagegen stehen Gewerkschaften, Vereine, Verbände und zivilgesellschaftliche Organisationen. Solche aufzubauen, zu stärken und Menschen für sie zu begeistern, ist die Aufgabe der Stunde.
Rechtspopulist:innen und -extreme haben Zulauf. Was können wir von ihnen lernen, ohne ihre Werte zu übernehmen?
Während Populist:innen fast immer in den Fakten lügen, sagen sie emotionale Wahrheiten. Sie sprechen Gefühle an wie: «Du hast Angst, was deinen Wohlstand betrifft.» Oder: «Du hast das Gefühl, dein Land wird dir fremd.» Dass dem so ist, liegt nicht an Geflüchteten, gegen die sie hetzen. Das liegt an einer sich unglaublich schnell verändernden, globalisierten und digitalisierten Welt mit sich wandelnden Normen. Und ja, das verunsichert! Diese Verunsicherung wird von anderen Parteien oft negiert. Diese sagen: «Uns geht es ja gut.» Oder: «Wir machen ja viel für euch.» Das ist nicht, was viele empfinden.
Also die Gefühle ernst nehmen?
Unbedingt, weil Gefühle uns helfen, unsere Umwelt zu verarbeiten und, darauf basierend, Entscheidungen zu treffen. Gefühle sind deshalb äusserst relevant. Auch können wir von Rechtspopulist:innen lernen, eigene Themen zu setzen: Derzeit bestimmen sie die Themen und der Rest arbeitet sich daran ab. Wir reagieren immer nur und bleiben so in ihrer Logik. Dieser entkommen wir nur, wenn wir eigene Geschichten erzählen; Geschichten von Solidarität, von Hoffnung, von Menschen, die zusammen etwas erreicht haben.
Wie reagieren Sie auf populistische Themen?
Mit Familienmitgliedern, die die AFD wählen, rede ich nie über ihren Rassismus oder ihre Verschwörungstheorien. Ich will wissen, wie es ihnen geht, was sie gerade machen, was sie brauchen. Ich interessiere mich für ihre Hobbys, für sie als Menschen. In solchen Gesprächen merke ich immer: Dieser Mensch braucht nicht, dass Ausländer:innen abgeschoben werden, sondern Jobsicherheit. Eine bezahlbare Wohnung. Dass die Enkelin wieder mit ihm spricht. Oft übertüncht Fremdenhass solche Wünsche. Und wenn ich anderswo einem faschistisch gesinnten Menschen begegne, erzähle ich ihm einfach meine Lieblingsfakten über Koalas.
Über Koalas?!
Es gibt erstaunliche Fakten über Koalas, zum Beispiel, dass sie bei Waldbränden «explodieren» oder Eukalyptus, ihr Futter, am Baum erkennen, auf einem Teller aber nicht. Rechtsradikale Menschen können debattengeschult sein, auf jedes Argument ein Gegenargument bringen. Aber spreche ich plötzlich über das, was mich begeistert, wissen sie darauf nicht einzugehen. Wenn ich ihnen erzähle, worauf ich neugierig bin, setze ich die Themen, nicht sie. Ich halte deshalb radikal an dem fest, was mich interessiert. Neugier ist die antifaschistischste Emotion: Für Neugier muss man entspannt und aufgeschlossen sein. Sie ist eine so wunderschön verspielte Emotion, so fern vom Hierarchie- und Kampfdenken, von dem Faschismus lebt. Und ich möchte nicht immer kämpfen. Ich will neugierig auf meine Mitmenschen sein.
* Marina Weisband, geboren in der Ukraine, ist Pädagogin, Psychologin, Autorin und Speakerin. Sie betreibt das Schulprojekt «aula» mittlerweile an über 50 Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz und ist politisch aktiv. Weisband hat das Chronische Fatigue-Syndrom und lebt in Deutschland.