© Mauricio Panozo

«Hier wird kein Baum mehr gefällt»

Der Amazonas gilt als die Lunge der Welt. Doch diese krankt. Helvetas hilft in Bolivien mit, diesen wertvollen ursprünglichen Wald zu schützen und wiederaufzuforsten.
TEXT: Rebecca Vermot - FOTOS / VIDEOS: Mauricio Panozo - 01. Dezember 2023
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Sandra Justiniano duckt sich gerade noch rechtzeitig, um einem tiefhängenden Ast auszuweichen. Sie ist unterwegs in den «Monte», den unberührten Amazonas, und sitzt hinter ihrem Sohn auf einem Motorrad. Zusammen mit ihrer Schwester und ihren
Brüdern wollen sie Asaí ernten, Beeren, die in luftiger Höhe in der Krone einer Palme wachsen. Wo die Gruppe von der Strasse auf diesen schmalen Pfad abgebogen ist, hatte sie kurz innegehalten und den Wald um Erlaubnis gebeten, ihn betreten und Asaí ernten zu dürfen. Ohne diesen Moment der Zwiesprache, den Dank an die Natur, wird hier kein Tier gejagt, keine Frucht geerntet.

Als der Wald zu dicht wird, geht die Gruppe zu Fuss weiter, balanciert auf morschen Stämmen über Bäche und schlängelt sich durch das dichte Gehölz. Mit Macheten befreien die Männer den kaum erkennbaren Pfad von Ästen oder lästigem Unterwuchs.
Am Fuss der Asaí-Palme schlingt sich Carlos Justiniano ein Tuch in einer Acht um die Gummistiefel und klettert behände den glatten Stamm hoch – bis zu 25 Metern hoch wachsen die Palmen.

Oben angekommen, zieht er seine Machete aus dem Gürtel, kappt mit festen Schlägen ein rund 15 Kilogramm schweres Büschel voller Asaí-Beeren und rutscht in hohem Tempo den Stamm wieder runter. Schwer atmend erholt er sich wenige Minuten, bevor er nochmals hochklettert, um das nächste Büschel zu holen.

«Wir ernten nur 70 Prozent der Asaí-Beeren. So können sie absamen und sich weiterverbreiten», erklärt Sandra, während sie das Büschel am Fuss der Palme auf einer Blache hin und her rollt, um die dunkelvioletten, recht harten Beeren von den hölzernen Stängeln zu trennen. In Europa ist Asaí als «Açai» aus Brasilien bekannt und wird gerne als Superfood vermarktet.

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Carlos Justiniano klettert behände eine Palme hoch, um Waldfrüchte zu ernten. Früher wurde die Palme für ihr Herz gefällt. © Mauricio Panozo

Wo Junge das Sagen haben

Sandras Familie wohnt in Buen Retiro, einem kleinen Dorf im Departement Beni im Norden Boliviens. Auf der Strasse, die vom Hauptort Riberalta hierherführt, tummeln sich Tausende gelber Schmetterlinge; der Staub der Autos und Motorräder hat die Bäume am Strassenrand rot eingefärbt. Nach einem Drittel des Weges markiert ein Busch das Ende des Handyempfangs. Ein paar Kilometer weiter endet auch das Stromnetz. Ende Jahr, so hofft das Dorf inständig, werden Handysignal und Strom auch Buen Retiro erreichen.

Buen Retiro ist eine kleine Bauerngemeinde. Am Waldrand wachsen Yucca, Mais, Reis, Zitrusfrüchte und Kochbananen – zum Eigenkonsum und zum Verkauf. Wenn die Pflanzen keine Früchte oder Wurzeln mehr tragen, legen die Familien Feuer, um das Land wieder urbar zu machen. Doch das beraubt den Boden seiner Nährstoffe: Ohne pflanzliche Rückstände bildet sich kein Humus, der Boden laugt aus und es braucht neue Landwirtschaftsfläche, um die Ernte zu sichern. Diese gewinnen viele Bäuer:innen auf Kosten des Waldes. Allein Bolivien hat in den vergangenen 20 Jahren neun Prozent seiner Primärwälder verloren – 2022 so viel wie in keinem Jahr zuvor. Die Hauptgründe dafür sind Dörfer und Städte, die wachsen, und die Landwirtschaft.

Buen Retiro ist jung – in zweierlei Hinsicht: Einerseits wurde das Dorf erst 2005 gegründet. Damals gehörte das Land einem Privaten, der mit Holzschlag Geld machte, aber – gerüchteweise – seine Steuern nicht bezahlte. So bat Sandras Familie den Bürgermeister, sich hier niederlassen zu dürfen und das Land zu bewirtschaften. Es kam zum Konflikt mit dem ehemaligen Besitzer; zwei Brüder Sandras wurden zeitweise verhaftet. Der Prozess um die Landrechte ist noch im Gang. Solange das Dorf jedoch beweisen kann, dass es den Wald, wie in der bolivianischen Verfassung vorgesehen, schützt sowie sorgfältig und sozial bewirtschaftet, festigen die Familien ihre Eigentumsrechte.

Andererseits sind die Menschen hier recht jung. «Das ist ein grosser Vorteil», erklärt Sandra, selbst 33 Jahre alt. «Es gibt keine althergebrachten Regeln und Hierarchien.» Sie, ihre Geschwister und andere junge Leute haben im Dorf viele Mitsprachemöglichkeiten und bringen das wirtschaftliche Leben voran – immer im Bewusstsein, dass ihre Lebensgrundlage
von einer gesunden Umwelt abhängt.

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Yucca-Ernte in Buen Retiro. Die Wurzel ist ein wichtiges Grundnahrungsmittel. Der Überschuss wird verkauft. Angebaut wird sie auf ausgewiesenen Feldern, um den Wald zu schützen. © Mauricio Panozo

Wertvolle Asaí, unverzichtbares Wasser

Und hier beginnt die gemeinsame Geschichte von Buen Retiro, Helvetas und den Asaí-Beeren aus dem bolivianischen Amazonas. Lange war die Palme nur bekannt für ihr Herz, den Palmito – eine Delikatesse. Dafür wird die Palme nach 10 bis 15 Jahren Wachstum gefällt – für einen einmaligen «Gewinn». Sie ist deshalb inzwischen vom Aussterben bedroht. Auch in Buen Retiro wussten die Leute lange nicht, wie wertvoll die Beeren dieser Palme sind. «Auch wir kappten die Palme und verkauften den Palmito», erklärt Sandra.

Dann hörte das Dorf, dass es auch für die Beeren einen Markt gibt. Allerdings ist die brasilianische Konkurrenz gross: In Brasilien werden für Açai mehrstämmige Palmen der Sorte Oleracia in Monokulturen angebaut, was das Produkt billiger macht, aber den Amazonas zerstört und viel Wasser braucht. Der bolivianische Asaí der Sorte Precatoria hat nur einen Stamm. Die Palme ist eine inzwischen seltene Hochlandart und trägt zur Artenvielfalt bei, denn sie wächst wild. Entsprechend geringer ist ihr Ertrag.

Die erste Ernte aus Buen Retiro – zu schmackhaftem Saft verarbeitet – war auf dem lokalen Markt innerhalb von 20 Minuten ausverkauft. Auch die zweite fand reissenden Absatz. Die Dorfbewohner:innen gründeten eine Vereinigung; Sandra, die zwei Jahre Buchhaltung studiert hatte, wurde deren Präsidentin. Das Dorf baute mithilfe einer NGO eine einfache Fabrik, um Asaí zu verarbeiten.

Vom Waldgarten zum Wald

Mit dem Projekt PASOS in Bolivien unterstützt Helvetas dank Spenden, Beiträgen von Stiftungen und Mitteln aus dem Deza-Programmbeitrag Dorfgemeinschaften im Amazonas dabei, ihre Lebensgrundlage zu stärken. Neben der Marktanbindung arbeitet Helvetas auch in der Aufforstung. Im Zentrum steht dabei die Bodenregeneration nach dem Prinzip des Agroforsts, der Wald und Landwirtschaft kombiniert. Aufeinander abgestimmt wachsen darin verschiedene Pflanzenarten von Reis oder Mais, über Kochbananen und Papaya bis hin zu Kakaopflanzen und Kaffee, aber auch Pflanzen, die den Boden nähren, und Bäume, die später gefällt werden können. Erste Resultate sind positiv: Innerhalb von knapp zwei Jahren hat sich der pH-Wert und damit die Fruchtbarkeit dieser Böden markant verbessert. Das Einkommen der Familien ist gewachsen und da die Früchte zu unterschiedlichen Zeiten erntereif sind, ist die Ernährung gesichert. Die Parzellen werden mit der Zeit zu Wald, den die Familien wirtschaftlich nutzen können. Ausserdem entstehen mikroklimatische Inseln, die die Folgen des Klimawandels abfedern.

Helvetas fördert im bolivianischen Amazonas das Waldmanagement und damit den Waldschutz, um die Abholzung zu stoppen. Dafür berät und unterstützt Helvetas auch Vereinigungen wie diejenige von Buen Retiro bei der Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von nachhaltig gewonnenen Waldfrüchten wie Asaí- und Majo-Beeren, Paranüssen, Kakao, Kaffee – bei allem, was der Amazonas hergibt. Dabei geht es darum, den Wald zu nutzen, ohne ihn zu schädigen, und darum, Familien wie der von Sandra ein sicheres und regelmässiges Einkommen zu ermöglichen.

Die Asaí-Verarbeitung ist wasserintensiv: Für 1,5 Tonnen Beeren – so viel kann die Fabrik an einem Tag verarbeiten – braucht es 4500 Liter Wasser, um sie zu waschen. Und hier kam die Fabrik an ihre Grenzen: Das Wasser des Dorfbrunnens versiegte wegen ihr. Deshalb unterstützte Helvetas die Vereinigung unter anderem dabei, einen eigenen Brunnen zu bohren, dessen Wasser auch die Menschen im Dorf nutzen dürfen. Helvetas beriet die Verantwortlichen auch dabei, die Hygienestandards zu verbessern und rostfreie Kessel zu besorgen, um den Geschmack der Beeren zu bewahren.

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37 Kilo Beeren werden Carlos und Sandra aus dem Wald heimbringen. © Mauricio Panozo

Die Vögel kehren zurück

«Wenn es läuft mit der Ernte, stehen hier 200 Leute aus der ganzen Region Schlange, um uns Beeren zu liefern», erzählt der 32-jährige Carlos Justiniano, der seine Schwester Sandra inzwischen als Präsident der Vereinigung abgelöst hat. Zu Bestzeiten verkaufte die Kooperative 70 Tonnen Asaí-Fruchtkonzentrat pro Saison, das jeweils innert kürzester Zeit eingefroren werden muss, damit es nicht oxidiert und ungeniessbar wird. Deshalb wird es während der Produktion rasch in ein Kühlhaus in Riberalta
transportiert. Doch die Vereinigung von Buen Retiro träumt gross: Sie will ein eigenes Kühlhaus bauen, auch, um nicht von anderen abhängig zu sein, die für das Gefrieren viel Geld verlangen. Sie will Asaí-Glace und Gebäck herstellen, denn diese sind beliebt. Und aus den Steinen der Beere liesse sich ökologische Kohle herstellen. «Wir könnten so viel mehr arbeiten, so viel mehr herstellen», sagt Sandra.

Da Hunderte Familien dank der Fabrik die Asaí-Palme und auch andere Bäume nicht mehr fällen, sondern wirtschaftlich nutzen, geht es dem Wald heute merklich besser. «Als wir hierherkamen, hörten wir kaum Tiere», erzählt Sandra. «Es gab keine Vögel. Jetzt, seit wir hier zum Wald schauen, kommen sie zurück. Es hat wieder mehr Geräusche. Hier wird kein Baum mehr gefällt.» Das Dorf hat einen strengen Nutzungsplan für die ressourcenschonende Bewirtschaftung von Wald und Feldern. Daran halten sich alle.

Aber Herausforderungen sind gross, auch solche, die weit weg ihren Ursprung haben. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist der Absatzmarkt für Asaí unberechenbar, weil die Bolivianer:innen wegen der steigenden Nahrungsmittelpreise
auf ein solches «Luxusgut» eher verzichten.

Und dann ist da das immer unberechenbarere Wetter: «Normalerweise fällt der erste Regen am 20. September», erzählt Sandra. «Auf dieses Datum konnten wir immer zählen.» Im vergangenen Jahr habe es zu wenig Niederschlag gegeben. «Die Flüsse füllten sich nicht und wir konnten nicht fischen gehen. Es gab zwar viel Asaí, aber die Beeren waren so trocken, als ob sie verbrannt wären. Ich weiss nicht, ob das der Klimawandel ist, aber normal ist das nicht. Dieses Jahr hat es dafür zu intensiv geregnet.»

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Sandra und ihre Schwester Vicky füllen in der Fabrik Asaí-Konzentrat, «Pulpo» ab. Er ist beliebt auf dem Markt. © Mauricio Panozo

Zu Ende träumen


Staub wirbelt hoch, wenn Sandra summend die Veranda kehrt. Sie versorgt die Säue, Ferkel und Hühner; das Grunzen und Schmatzen vermögen jedoch niemanden zu wecken, das tut sie selbst liebevoll. Es sind die Kinder, die ihr die Kraft geben, sich derart für den Wald und ihr Dorf einzusetzen. Früh haben diese von ihrer Mutter gelernt, wie wichtig der Wald und sein Schutz ist. Sandra will ihnen aber Perspektiven bieten. Dafür arbeitet sie hart.

Um sieben Uhr fährt ihr Sohn Jhostin mit seinem Motorrad los zur Sekundarschule auf halbem Weg nach Riberalta. Die achtjährige Samira wünscht sich heute von ihrer Mutter Zöpfe zur Schuluniform. Bis zur sechsten Klasse gehen die Kinder in
Buen Retiro zur Schule. Die vierjährige Yuredin mit ihrem gebrochenen Arm und der zweijährige Jasael dürfen noch das warme Bett geniessen.

«Wir haben unsere Träume nicht zu Ende geträumt.»

Sandra Justiniano wünscht sich für ihre Kinder mehr als sie selbst hatte.

«Ich sage meinen Kindern immer wieder: ‹Ich will nicht, dass ihr es so habt wie ich.› Ich habe immer mit meinem Vater auf dem Feld gearbeitet. Wir haben im Morgengrauen Zuckerrohr gemahlen. Um sieben Uhr morgens gingen wir eine Stunde zu Fuss zur Schule. Ich sage ihnen: ‹Wir hatten keinen Rucksack wie ihr. Wir hatten kein Motorrad. Wir hatten nur ein Fahrrad für alle. Ihr aber habt jetzt ein Motorrad, habt eine Schule in der Nähe, habt einen Rucksack, genügend Hefte, eine Uniform. Ihr müsst lernen, um etwas zu erreichen im Leben.› Erfolglos versucht Sandra ihre Tränen zurückzuhalten. «Wir haben unsere Träume nicht zu Ende geträumt.» Ihre Kinder aber sollen sie zu Ende träumen dürfen.

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Morgenroutine. Sandra wünscht sich für ihre Kinder mehr, als sie selbst je hatte. © Mauricio Panozo

Kontext Bolivien: Die offizielle Schweizer Entwicklungszusammenarbeit endet

Die Schweiz zieht sich 2024 aus der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika zurück, wegen der «merklichen Reduktion der Armut und der Verbesserung der Grundversorgung». Doch Armutszahlen sind trügerisch; die Ungleichheit ist gross. Die Pandemie, steigende Nahrungsmittelpreise wegen dem Krieg in der Ukraine und fehlende wirtschaftliche Perspektiven belasten die ärmsten Haushalte in Bolivien sehr. Gemäss nationalem Institut für Statistik lebten 2021 36% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze und 11% in extremer Armut, wobei die Armut auf dem Land markant höher ist als in den Städten. Der Internationale Währungsfonds sieht im Abbau der Internationalen Zusammenarbeit ein hohes Risiko. Dieser könne das Land destabilisieren, zu Versorgungslücken, steigenden Kosten und finanzieller Instabilität führen, sagt er in einer Risikoanalyse.