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«Mit Klein-klein bewirkt man selten Grosses»

Interview mit Nachhaltigkeitsexpertin Eva Schmassmann von der Plattform Agenda 2030
VON: Patrik Berlinger - 24. Januar 2024
© Handout

Die Ambitionen sind zu tief, die Fortschritte zu klein. Bei diesem Tempo wird die Schweiz die Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verfehlen. Wo es beim neuen Aktionsplan 2024-2027 hapert – und was es bräuchte, damit die Schweiz die SDGs doch noch erreicht. 

Eva Schmassmann, wo steht die Schweiz bei der Umsetzung der Agenda 2030? 

Die Schweiz ist insgesamt nicht auf gutem Wege, die Nachhaltigkeitsagenda der UNO umzusetzen. Das hat bereits der Länderbericht aufgezeigt, den die Schweiz 2022 vor der versammelten Staatengemeinschaft in New York präsentiert hatte. Darin stellt der Bundesrat durchaus selbstkritisch fest: Das Tempo reicht nicht. In manchen Bereichen ist sogar die Richtung falsch, sodass die Schweiz sich von der Zielerreichung einzelner SDGs entfernt. 

Zum Beispiel rutschen immer mehr Menschen in die Armut ab. Sie sind auf Suppenküchen und Caritas-Märkte angewiesen. Immer mehr Böden werden zubetoniert und versiegelt, die Artenvielfalt auf Wiesen und in Wäldern geht zurück. Und, während unser CO2-Ausstoss leicht rückläufig ist, steigt unsere Klimaverantwortung wegen Importen und Flügen im Ausland. 

Um die weltweit gültige Agenda 2030 in die nationale Politik zu übersetzen, hat der Bundesrat 2021 die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030, kurz SNE 2030, verabschiedet. Das Problem: Bei der Übersetzung der SDGs in den Schweizer Kontext wurden viele Ziele verwässert – SDG 1 zielt z.B. darauf ab, Armut in reicheren Ländern zu halbieren. Der Bundesrat macht aus dieser «Halbierung» ein wenig fassbares und wenig ambitioniertes «Armut reduzieren». 

Nun hat der Bundesrat einen neuen Bericht und einen Aktionsplan 2024-2027 verabschiedet. Was ist deine zentrale Botschaft? 

In der SNE 2030 hat der Bundesrat drei wichtige Handlungsfelder definiert: «Nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion», «Klima, Energie und Biodiversität» sowie «Chancengleichheit und sozialer Zusammenhalt». Der neue Bericht fasst den Stand der Umsetzung in diesen drei Themenfeldern zusammen. Auch hier stellt der Bundesrat selbstkritisch Handlungsbedarf fest. 

Der dazugehörige Aktionsplan 2024-2027 müsste nun Massnahmen identifizieren, mit denen dieser Handlungsbedarf tatsächlich angegangen werden kann: Was braucht es, damit Armut reduziert und sozialer Zusammenhalt gefördert werden kann? Wie heben wir die Kreislaufwirtschaft auf das nächste Level? Welche Regulierungen sind nötig, damit Unternehmen ihre soziale und ökologische Verantwortung konsequenter wahrnehmen? Wie kriegen wir die Banken dazu, sich komplett aus fossilen Investitionen zurückzuziehen? Ausgerechnet in solch zentralen Feldern fehlen aber konkrete Massnahmen. 

«Heisse Kartoffeln» werden im Aktionsplan nicht angefasst: Die Armutsgefährdung in der Schweiz steigt (SDG 1) und Übergewicht nimmt zu (SDG 3), Einkommensungleichheit und die gefühlte Diskriminierung wachsen (SDG 10), der Material-Fussabdruck vergrössert sich (SDG 8) und es gibt immer mehr Siedlungsabfälle (SDG 12), die Zersiedelung schreitet voran (SDG 11) und Artenvielfalt geht verloren (SDG 15) – und der Mitteleinsatz für die Entwicklungszusammenarbeit entfernt sich vom UNO-Ziel von 0,7% des Bruttonationaleinkommens (SDG 17). Konkrete Massnahmen, um diese negativen Trends umzukehren? Fehlanzeige. 

Daher meine zentrale Botschaft: Der Zwischenbericht liefert eine gute Grundlage, um notwendige Massnahmen zu identifizieren. Der Aktionsplan leistet diese Arbeit nicht. Er ist ein Beispiel für den fehlenden politischen Willen, tatsächlich innovative, visionäre und transformative Ansätze zu wagen. Die Verwaltung bleibt haften im Klein-klein von einzelnen, oft isolierten Massnahmen. Und mit Klein-klein bewirkt man selten Grosses. 

Gibt es auch Massnahmen, die du positiv bewertest? 

Der Massnahmenkatalog enthält durchaus ein paar interessante Ansätze, etwa zu gesunder Ernährung, nachhaltiger Landwirtschaft oder erneuerbarer Energieversorgung. 

Besonders positiv finde ich, dass der Bund die sogenannten Spillovers der Schweiz analysieren will. Es geht darum, Auswirkungen unseres Handelns auf Menschen in anderen, ärmeren Ländern anzuschauen: Wie wirken sich unser Konsum, unsere Importe, unsere Essgewohnheiten, unser Mobilitätsverhalten, unsere Investitionen im Ausland auf andere Länder aus? Dass man dieses Verständnis fördert, ist gut.  

Im Vergleich mit anderen Ländern macht der Bundesrat doch vieles richtig: Die Schweiz hat ein starkes Sozialsystem. Der Bundesrat positioniert die Schweiz als nachhaltigen Finanzplatz. Seit kurzem gelten strengere Regeln bei der Unternehmensverantwortung. Und die OECD-Steuerreform wird fristgerecht umgesetzt. Reicht das nicht? 

Unbestritten, die Schweiz startet bei vielen Zielen auf hohem Niveau. Und die Politik bewegt sich in vielen Bereichen in die richtige Richtung. Aber nach wie vor fehlt eine nationale Armutsbekämpfungsstrategie. Zur Erinnerung: In der Schweiz leben 750'000 arme Menschen – jede 11. Person. Hinzu kommen nochmals so viele, die «armutsgefährdet» sind. Sie können sich gerade noch über Wasser halten, doch dann passiert ein Unfall, eine Mietzinserhöhung, eine psychische Krise... 

Und ja, geht es nach dem Bundesrat, soll die Schweiz bei nachhaltigen Finanzanlagen einen internationalen Spitzenplatz einnehmen. Nur, es bleibt bei freiwilligen Empfehlungen. Klare Vorgaben und Regulierungen fehlen. Auch das Geldwäschereigesetz enthält nach wie vor viele Schlupflöcher und greift bei der Bekämpfung von zweifelhaften Finanzgeschäften über den hiesigen Finanzplatz einfach zu wenig, wie investigative Journalist:innen immer wieder ans Licht bringen. 

Zur Unternehmensverantwortung: Die neuen vom Bundesrat vorgegebenen Anforderungen hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in globalen Wertschöpfungsketten sind harmlos und wenig griffig. Das soeben verabschiedete EU-weite Lieferkettengesetz wird bald der neue Massstab sein und die Schweiz erneut unter Druck setzen. Und noch ein Wort zur Steuerpolitik: So, wie die Schweiz die neuen OECD-Regeln ab diesem Jahr umsetzt – mit versteckten Subventionen und Steuerabzügen für internationale Konzerne –, wird es kaum einen positiven Effekt auf Steuergerechtigkeit für ärmere Länder haben. 

Im September 2024 findet der «Summit of the Future» am UNO-Sitz in New York statt. Welches Ziel verfolgt der Gipfel? 

Dem UNO-Generalsekretär António Guterres geht es darum, die Agenda 2030 zu bekräftigen und die Verpflichtung aller Regierungen abzuholen, die SDGs in ihren Ländern auch wirklich umsetzen zu wollen. Die Welt muss wieder «on track» gebracht werden. 

Wir erinnern uns: Der SDG-Gipfel vom vergangenen September förderte eine beunruhigende Halbzeitbilanz zutage: steigende Armut, mehr Hunger, Konflikte und humanitäre Katastrophen, und immer mehr Menschen auf der Flucht. Nebst der Klima- und der Biodiversitätskrise befindet sich auch die regel-basierte Weltordnung in einer Krise – geopolitische Spannungen verhindern gemeinsame Fortschritte, die auf Vertrauen und Kooperation basieren. 

Der Zukunftsgipfel 2024 will das multilaterale System stärken und die Nord-Süd Beziehungen auf ein gerechteres Fundament stellen, die Jugend besser einbinden und die internationale Friedens- und Menschenrechtsförderung voranbringen. Und wie gesagt, die Agenda 2030 soll revitalisiert werden. 

Viele sagen, die Schweiz sei klein und könne daher wenig bewirken. Ausserdem mache sie doch schon viel, z.B. beim Klimaschutz oder bei der Entwicklungszusammenarbeit. 

Tatsächlich unterhält die Schweiz eine gute Internationale Zusammenarbeit. Der Bund setzt aber lediglich die Hälfte der von der UNO erwarteten Finanzmittel ein. Gleichzeitig soll die Internationale Zusammenarbeit immer mehr leisten: Wiederaufbau in der Ukraine, Klimamassnahmen in ärmeren Ländern, mehr Nothilfe. Da bleibt am Ende immer weniger für die nachhaltig wirkende Entwicklungszusammenarbeit zur globalen Armutsbekämpfung und für präventive Friedens- und Menschenrechtsarbeit. 

Zur Klimapolitik: Zwar ist die Schweiz klein, ihr Klima-Fussabdruck ist aber im Vergleich mit anderen Industrieländern sehr gross. Und, während etliche Parlamentarier:innen die erneuerbare Energiewende und den sozial-ökologischen Wandel immer wieder ausbremsen, wird die Verantwortung für Klimaschutz einfach an ärmere Länder delegiert – Stichwort: CO2-Kompensationen in Entwicklungsländern. 

Die Schweiz kann einiges bewirken. Sie sollte in der nachhaltigen Entwicklung und bei der Transformationspolitik als verantwortlicher Player vorangehen und sich international noch stärker engagieren. Die Schweiz hat die nötigen finanziellen Ressourcen und das nötige Know-how. Sie kann Brücken bauen und Kompromisse fördern. 

Letzte Frage: In der Schweiz steigen die Lebenshaltungskosten. Aus gewissen Kreisen heisst es darum, wir könnten uns keinen Klimaschutz leisten, wir müssten nun zuerst die Kaufkraft stärken. Klingt nachvollziehbar, oder? 

Nachhaltige Entwicklung ist ein Zusammenspiel der verschiedenen Ziele. Es stimmt: Wir müssen dafür sorgen, dass alle Menschen genügend Ressourcen haben, um ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wohnraum, Mobilität und Zugehörigkeit zu erfüllen. Gleichzeitig müssen wir aber auch in Klima- und Artenschutz investieren. Wenn wir eines davon vernachlässigen, wird die Symptombekämpfung immer teurer – auf Kosten beispielsweise der Kaufkraftstärkung. Verschlimmert sich die Klima- und Biodiversitätskrise, verstärkt das die Armut und vermindert die Kaufkraft, etwa weil die Lebensmittelproduktion wegen zunehmender Trockenheit oder Unwetterschäden teurer wird. Wir müssen win-win-Situationen schaffen. Nicht «entweder oder», sondern «sowohl als auch»! Gewinnen soziale Spannungen einmal die Überhand, untergraben sie das Vertrauen in demokratische Institutionen und erschweren eine politische Konsensfindung. 

Leider sehen wir: Die Ungleichheit wächst. In ihrem neuesten Bericht zeigt Oxfam auf, dass sich das Vermögen der reichsten fünf Männer seit 2020 verdoppelt hat. In der gleichen Zeit wurde die Hälfte der Menschheit ärmer. Das läuft allem zuwider, wofür die SDGs und wir stehen. Es braucht klare Regeln und Vorgaben, um schädliches, gewinnmaximierendes Verhalten rasch und deutlich zu reduzieren. Wir können beispielsweise Privatjets stärker regulieren, sowie Besteuerung gerechter ausgestalten und Reiche stärker in die Verantwortung nehmen, wie es gewisse Milliardäre ja selbst fordern. Damit hätte der Staat auch mehr Mittel und Spielraum, um nachhaltige Ernährungssysteme oder die Kreislaufwirtschaft voranzutreiben.  

2015 verabschiedeten die UNO-Mitgliedsstaaten die Agenda 2030. Sie beinhaltet 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG), u.a. zu Armut, Hunger, Gesundheit, Bildung, Gleichstellung, nachhaltiger Wirtschaft, Klimaschutz und Frieden. 

Bei Agenda-Halbzeit, am SDG-Gipfel in New York im September 2023, beschrieb UNO-Generalsekretär António Guterres «eine Welt ausser Kontrolle» – und präsentierte seinen ernüchternden Halbzeitbericht: Weltweit nehmen Armut und Ungleichheit zu, die globalen Treibhausgasemissionen steigen und Biodiversität geht verloren, Geschlechtergleichstellung ist in weiter Ferne. Und, während die Verschuldung vieler ärmerer Länder bedrohlich hoch ist, bleibt die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit weit entfernt vom UNO-Ziel von 0,7 Prozent des BNE.  

Auch die Schweiz ist keine Musterschülerin: Zwar schneidet sie im «Sustainable Development Report» relativ gut ab, auf Rang 15 von 166 bewerteten Ländern. Hingegen fällt der «Spillover-Score» schwach aus – Rang 157 von 166 bewerteten Ländern. Spillover meint die negativen Auswirkungen des Handelns eines Landes auf die Fähigkeit anderer Länder, sich nachhaltig zu entwickeln. 

Im Juni 2021 legte der Bundesrat die Strategie Nachhaltige Entwicklung bis 2030 (SNE 2030) vor. Diese dient der Schweiz als Leitfaden für die Erreichung der SDGs. Schwerpunkte setzt die Strategie bei «nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion», bei «Klima, Energie und Biodiversität» und bei «Chancengleichheit und sozialem Zusammenhalt». Für den Bundesrat besteht bei diesen Themenfeldern ein besonderer Handlungs- und Abstimmungsbedarf zwischen den Politikbereichen. 

Am 24. Januar 2024 hat der Bundesrat einen Zwischenbericht veröffentlicht, begleitet von einem Aktionsplan für die Jahre 2024-2027. 

*Eva Schmassmann ist Expertin für Entwicklungspolitik und nachhaltige Entwicklung. Sie leitet die zivilgesellschaftliche Plattform Agenda 2030 und ist im Leitungsgremium der vom Bundesrat eingesetzten Begleitgruppe Agenda 2030

Lesen Sie auch unseren «Polit-Sichten»-Blog zum SDG-Gipfel im vergangenen September sowie ein Interview mit Peter Messerli, Nachhaltigkeitsexperte der Wyss Academy for Nature an der Universität Bern. 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
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