Vor 30 Jahren hat der erste Weltsozialgipfel der UNO die Welt bewegt: Er war Grundlage für die Millenniumsziele und eigentlich auch für die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Trotz schwierigem Umfeld und geopolitischen Spannungen hat der zweite Gipfel im November in Doha das Potenzial, Regierungen, Wissenschaftler und die Zivilgesellschaft zusammenzubringen, um die sozialen Errungenschaften zu stärken und voranzubringen.
Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem vermeintlichen «Ende der Geschichte», wonach sich Demokratie und Marktwirtschaft mit ihren liberalen Prinzipien endgültig und überall durchsetzen würden, fand 1995 in Kopenhagen der erste Weltsozialgipfel der Vereinten Nationen statt. Er galt als «sozial-demokratische Antwort» auf die neoliberale Politik der Reagan/Thatcher-Ära und den Washingtoner Konsens, der von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vorangetrieben wurde. Viele Entwicklungsländer kämpften damals mit den weitreichenden Folgen neoliberaler Strukturanpassungsmassnahmen: Im Vorfeld der Konferenz zeigte die UNO im Bericht States of Disarray auf, wie politische Deregulierung und wirtschaftliche Liberalisierung zu Arbeitslosigkeit und Ungleichheit beigetragen hatten.
Von den Millenniumszielen …
Drei Ziele standen am ersten «World Social Summit» im Vordergrund: Armutsbekämpfung, produktive Beschäftigung und soziale Integration. Die Regierungen verpflichteten sich damals auf einen 10-Punkte-Plan, das Aktionsprogramm von Kopenhagen. Es beinhaltete unter anderem den Schutz der Menschenrechte, mehr internationale Zusammenarbeit und Solidarität, Nicht-Diskriminierung und Respekt für Diversität, Chancengleichheit und Teilhabe aller Menschen. Zur Umsetzung des Plans sollten die Regierungen entsprechende Finanzmittel einsetzen. Um dies zu ermöglichen, lag die Idee einer Devisentransaktionssteuer (Tobin Tax) oder die Forderung nach einer schrittweisen Reduktion der Militärausgaben (Peace Dividend) auf dem Tisch – beides fand letztlich aber kein Gehör.
Während der «wohlfahrtsstaatliche Ansatz» des Weltsozialgipfels an Einfluss gewann, beeinflussten auch neoliberale Konzepte weiterhin den globalen Entwicklungsdiskurs. Um die unterschiedlichen Ansätze in Einklang zu bringen, definierten die Weltbank und der IWF gemeinsam mit der OECD und der UNO eine Reihe zentraler entwicklungspolitischer Ziele: Der Kompromiss mündete im Jahr 2000 in den Millenniums-Entwicklungszielen (MDG): acht Ziele, in den Bereichen Armutsbekämpfung, Bildung und Gesundheit, die in den Ländern des Globalen Südens umgesetzt werden sollten. Während die MDGs die Entwicklungspolitik in den Nullerjahren prägten, verschwand der holistische Ansatz des Kopenhagener Aktionsprogramms für lange Zeit in der Schublade.
… zur bahnbrechenden Agenda 2030
Das änderte sich 2015 als die Staatengemeinschaft die umfassende Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Entwicklung verabschiedete. Die bahnbrechende Agenda richtet sich nicht mehr nur an den Globalen Süden, sondern verfolgt in sämtlichen Ländern die notwendige Transformation hin zu einer nachhaltigen und gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Mit diesem Anspruch stellt die Agenda einen Paradigmenwechsel dar, der alle Staaten inklusive der Schweiz zu eigentlichen «Entwicklungsländern» machte.
Zehn Jahre später ist offensichtlich, dass die Fortschritte ungenügend sind. Gemäss der Weltbank sind trotz Verbesserungen immer noch 808 Millionen Menschen extrem arm und leben mit weniger als 3 US-Dollar pro Tag. Betrachtet man die Armutsschwelle von 8,30 US-Dollar für Länder mittleren Einkommens, bleibt sogar 3,73 Milliarden Menschen ein angemessener Lebensstandard verwehrt. Während die Zahl der weltweit hungernden Menschen seit 2019 um 152 Millionen auf 733 Millionen gestiegen ist, zählt Forbes mittlerweile 3’028 Milliardäre (1987 waren es lediglich 140) mit einem Gesamtvermögen von 16,1 Billionen US-Dollar – fast 2 Billionen mehr als ein Jahr zuvor.
Der Kater nach der Feier
Weltweit sind beinahe 60 Prozent der Arbeitskräfte in informellen Beschäftigungsverhältnissen tätig. In Ländern mit niedrigem Einkommen liegt die Quote sogar bei 88,5 Prozent. Damit leben 3,8 Milliarden Menschen ohne soziale Absicherung. Während sich reiche Länder einer universellen Abdeckung für ihre Bevölkerung nähern (85,9 Prozent), ist der Anteil der Menschen mit Zugang zu Sozialversicherungssystemen in armen Ländern seit 2015 mit weniger als zehn Prozent kaum gestiegen. Den Regierungen fehlt dafür schlicht das Geld. Angesichts der globalen Verschuldung und wirtschaftlichen Unsicherheit setzen immer mehr Regierungen auf Sparmassnahmen (Austerität), wobei die Kürzungen bei der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA) die Lage in ärmeren Ländern noch zusätzlich verschärfen.
In Reaktion auf die sozialen Verwerfungen und die erdrückende Austeritätspolitik fordern NGOs, Gewerkschaften, Wissenschaftler:innen und UN-Institutionen, dass Politik stärker auf soziale Entwicklungsziele ausgerichtet wird. Ihre Erwartungen werden nun in Doha debattiert. Dazu gehört die Kampagne zur Beendigung der Sparpolitik (End Austerity Campaign), die eine höhere Besteuerung von Vermögenden und Grossunternehmen, die Einführung einer Digital- und Übergewinnsteuer, Schuldenerlasse für die ärmsten Länder, eine bessere Verfolgung von Steuerhinterziehung und staatliche Investitionen im sozialen Bereich fordert. Dazu gehört auch die Einrichtung eines Globalen Fonds für Sozialschutz mit dem Ziel, arme Länder beim Aufbau, der Erweiterung und der Finanzierung von Sozialsystemen zu unterstützen.
UN-Generalsekretär António Guterres startete 2021 die Initiative für Arbeitsplätze und Sozialschutz für einen gerechten Übergang (Just Transition). Sie zielt darauf ab, bis 2030 mindestens 400 Millionen neue Arbeitsplätze in der grünen Wirtschaft und in der Care-Arbeit zu schaffen und die soziale Grundsicherung auf die fast vier Milliarden Menschen auszuweiten, die derzeit davon ausgeschlossen sind. Gewerkschaften wiederum fordern einen neuen Gesellschaftsvertrag (New Social Contract) zur Durchsetzung der Arbeitnehmerrechte weltweit. Das UN-Forschungsinstitut für soziale Entwicklung (UNRISD) hat diese Idee aufgegriffen und um die ökologische Dimension erweitert.
Eine «once-in-a-generation» Chance
Im Vorfeld des Gipfels fanden vielversprechende zwischenstaatliche Verhandlungen im Hinblick auf eine prägnante, handlungsorientierte politische Erklärung (Political Declaration) statt. Basis dafür ist auch der World Social Report 2025 der UNO. Er fordert eine gerechtere Verteilung von Macht und Wohlstand sowie mehr internationale Zusammenarbeit.
Der Zero Draft von Belgien und Marokko, die den Prozess leiten, stiess bei vielen Regierungen auf allgemeine Zustimmung. Entwicklungsländer bezeichnen ihn als «gute Grundlage für die Verhandlungen», betonen aber zugleich, dass strukturelle Ungleichheiten und das Recht auf Entwicklung mehr Gewicht erhalten müssen. Die Bedeutung der öffentlichen Entwicklungshilfe, ein fairer Zugang zu medizinischen Produkten sowie der Abbau von Zollschranken und nicht-tarifären Handelshemmnissen sind für sie genauso zentral wie die Bekämpfung unlauterer Finanzströme.
Drei Jahrzehnte nach dem ersten Gipfel, der den Weg zu den Millenniums- und später den nachhaltigen Entwicklungszielen geebnet hat, steht die Welt vor neuen Herausforderungen in einer geopolitisch angespannten Atmosphäre. Gerade vor diesem Hintergrund bietet der zweite Weltsozialgipfel eine herausragende Gelegenheit, schwerwiegende soziale Missstände anzugehen und soziale Gerechtigkeit wieder auf die globale politische Agenda zu hieven.