Market in Shimela Village, Dehana Woreda, Wag Hemra Zone, Ethiopia | © Franz Thiel

Wissen, woher die nächste Mahlzeit kommt

In welche Richtung muss sich die Landwirtschaft entwickeln, um alle Menschen auf der Welt ausreichend und gesund zu ernähren? 
© Franz Thiel

Um alle Menschen auf der Welt ausreichend und gesund zu ernähren, muss die Landwirtschaft wieder kleinräumiger und vielfältiger werden. Das braucht einen Kurswechsel in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. In welche Richtung? Warum? Antworten von Patrik Berlinger.

Die Lebensmittelpreise steigen weltweit. Was passiert da gerade?

Zu Beginn des Ukrainekrieges war überall zu lesen, dass der Ernteausfall Millionen von Menschen in eine Hungerkrise stürzen wird. Tatsächlich hat der Hunger dramatisch zugenommen. Das Problem ist aber nicht nur der Krieg, denn wir stecken schon seit langem in einer Ernährungskrise – wegen anfälligen und nicht nachhaltigen Nahrungsmittelsystemen, schlechter Regierungsführung, der Pandemie, Konflikten und dem Klimawandel. Spekulation an den internationalen Börsen machen die Weltmarktpreise unvorhersehbar, Indien hat einen Exportstopp für Weizen verhängt und China hortet schätzungsweise die Hälfte der weltweiten Weizenvorräte. Hinzu kommen unterbrochene Lieferketten, höhere Transportkosten wegen steigender Diesel- und Benzinpreise sowie knappe und teurere Düngemittel. Ohne Dünger reift vielerorts keine Ähre mehr. Einerseits, weil Saatgut und Dünger von Konzernen aufeinander abgestimmt sind. Andererseits, weil der Boden derart ausgelaugt ist, dass er darauf angewiesen ist.

Was können wir dagegen tun?

1,8 Milliarden Menschen müssen mit weniger als 3,20 US-Dollar am Tag auskommen und leben unter der Armutsgrenze. Diese Menschen trifft es besonders hart, wenn die Lebensmittel, wie jetzt, plötzlich immer teurer werden. Weltweit hungern zudem über 800 Millionen Menschen. Fast 280 Millionen Menschen sind derzeit gemäss dem Uno-Welternährungsprogramm WFP jeden Tag auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen – Tendenz steigend. Kurzfristig müssen wir mit humanitärer Hilfe die grösste Not lindern, das braucht Geld. Zusätzlich sollten wir ein System der sozialen Sicherung in ärmeren Ländern unterstützen. Ich denke da an Versicherungen gegen klimabedingte Ernteausfälle oder den Tod von Herdentieren. Ich denke an Renten für ältere Menschen, Kindergelder oder Einkommensunterstützung, um essen zu kaufen – und zugleich den lokalen Markt zu stärken.

«Die Ernährungskrise muss durch gemeinsame Anstrengungen staatlicher, wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure unter Führung der Uno und ihren Fachorganisationen angegangen werden. Es braucht einen Umbau der Landwirtschaft hin zu einem gesunden System der Agrarökologie.»

Patrik Berlinger

Das ist aber zum Teil Symptom- statt Ursachenbekämpfung.

Das stimmt. Wir sind deshalb überzeugt: Die Ernährungskrise muss durch gemeinsame Anstrengungen staatlicher, wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure unter Führung der Uno und ihren Fachorganisationen angegangen werden. Es braucht einen Umbau der Landwirtschaft hin zu einem gesunden System der Agrarökologie. Dies erfordert von uns allen ein Umdenken. Nicht nur von uns Konsumentinnen und Produzenten, sondern auch von der Politik und der Wirtschaft. In einer agrarökologischen Landwirtschaft sind die Wechselwirkungen von Pflanzen, Tieren, Böden, Wasser etc. positiv. Keine Ressource wird übernutzt, auf chemische Pestizide und industrielle Tierhaltung wird verzichtet. Ackerbau und Viehwirtschaft werden gemischt betrieben, was gut für die Böden ist und die Ernährung vielfältiger macht. Werden verschiedene lokale Getreide, Gemüse und Früchte angebaut, können wirtschaftliche Schocks ebenso wie Dürren und Überschwemmungen besser abgefedert werden.

Das werden konventionelle und industrielle Betriebe nur ungern hören.

Ich fürchte ja. Denn die Idee geht weg von der monokulturellen Landwirtschaft, die abhängig von Saatgut und künstlichen Pestiziden international tätiger Agrarkonzerne ist. Hin zu einer lokal verankerten und ökologisch betriebenen Landwirtschaft, die für die Menschen vor Ort produziert. Die Bauernbetriebe sollen über ihr eigenes Saatgut und den Boden verfügen können, würdige Arbeitsbedingungen schaffen und regionale Wertschöpfungsketten aufbauen.

© Helvetas Guatemala
Mischkulturen wie hier in Guatemala sind klimaresistenter und sichern die Ernährung zahlreicher Familien. © Helvetas Guatemala

Hat ein solcher Ansatz denn keine Ertragseinbussen zur Folge?

Es gibt viele Studien aus der ganzen Welt, die zeigen, dass eine schonende, regenerative Bodenbearbeitung den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduziert und gleichzeitig die Erträge steigern kann. Die Rentabilität ist vergleichbar mit der von konventionellen Betrieben, sagt etwa das Bundesamt für Landwirtschaft. Und gerade in tropischen Regionen erhöht die nachhaltige Landwirtschaft die pro Haushalt verfügbaren Lebensmittel.

Inwiefern ist sie auch eine Antwort auf den Klimawandel?

Agrarökologie fördert die Artenvielfalt, und schont Klima und Wälder, weil kein Kraftfutter angebaut werden muss. Und sie hilft bei der notwendigen Anpassung an die zunehmenden Wetterextreme, die wegen der Erderwärmung bereits Realität sind.

Alles in allem ist es ein Weg weg von der globalisierten Arbeitsteilung zurück zu kleinräumigerem Denken?

Ja, und nicht nur in der Landwirtschaft, sondern im gesamten Ernährungssystem. Denn Agrarökologie setzt auf kurze Vermarktungswege, stärkt regionale Märkte und die Wirtschaft vor Ort. Sie erhöht die Autonomie der Bäuerinnen und Bauern und kann Millionen von Menschen Jobs und damit nachhaltige Zukunftsperspektiven in Produktion, Vermarktung, Vertrieb und Verkauf schaffen. Wir alle halten ja Souveränität hoch. Das sollte auch für die Ernährungssouveränität gelten, indem wir internationale Abhängigkeiten abbauen und die Wertschöpfung vor Ort ausweiten, damit die Menschen wissen, wo ihr Essen herkommt.

Und was kann die Schweiz dazu beitragen?

Die Liste der Forderungen ist lang: Saisonales und regionales Einkaufen und Essen muss gefördert, tierische Nahrung und Food Waste reduziert werden. Und um den weltweiten Hunger zu bekämpfen und das Klima zu schonen, muss sich der Bundesrat noch stärker für Agrarökologie aussprechen. Schliesslich anerkennt er offiziell, dass Agrarökologie wichtig ist, um die Ziele der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Noch werden Bundesrat und Verwaltung von Interessensverbänden ausgebremst. Das klare Signal an die Politik kann auch von den Konsumentinnen und Konsumenten kommen – mit jedem Einkauf, den wir tätigen.

Interview: Rebecca Vermot

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation

Äthiopien: Dürre und Hunger überstehen

Dürre, Krieg und hohe Preise belasten die Menschen - Reportage auf Englisch
© KEYSTONE/AFP/EDUARDO SOTERAS

Helvetas fordert entschiedenes Handeln in der Ernährungskrise

Informationspapier von Helvetas zu den Hintergründen und zur Lage in den Helvetas Partnerländern