Market, Trivandrum, Kerala, India .  | © KEYSTONE/ROBERT HARDING/Neil Emmerson

Hungrige Städte

Wie Städte künftig mit Nahrungsmitteln versorgt werden können
20. August 2021
© KEYSTONE/ROBERT HARDING/Neil Emmerson

Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten. In 30 Jahren werden es mehr als Zweidrittel sein. Die Menschen in den Städten künftig mit Nahrungsmitteln zu versorgen, wird zur grossen Herausforderung. Dazu braucht es nachhaltige Ernährungssysteme, die städtische und ländliche Regionen miteinander verknüpfen.

Das Recht auf Nahrung gehört zu den grundlegenden Menschenrechten, verbrieft in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 und verankert im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Doch über 70 Jahre später hungern noch immer über 800 Millionen Männer, Frauen und Kinder, mit steigender Tendenz. Zudem leiden knapp 2,4 Milliarden Menschen, ein Drittel der Weltbevölkerung, an Mangelernährung. Das heisst sie haben keinen Zugang zu genügend und ausgewogener Nahrung. Dabei könnte die Landwirtschaft weltweit gesehen die Ernährung von 10 Milliarden Menschen sicherstellen.

Die Notwendigkeit nachhaltiger Ernährungssysteme

Ein «Ernährungssystem» umfasst alle Aktivitäten und Akteure einer Gesellschaft, die an der Lebensmittelversorgung beteiligt sind. Beim Gemüse beispielsweise umfasst das System zunächst die Herstellung von Saatgut und Dünger, dann den Anbau und die Ernte, die Verarbeitung und Verpackung, den Transport und die Vermarktung und schliesslich die Zubereitung und den Verzehr. Ebenso beinhaltet es den auf diesem Weg produzierten Abfall, das Wasser und die Energie, die unterwegs aufgewendet wurden, sowie die Jobs und Einkommen im Nahrungsmittelsektor. Schliesslich gehören die Esskultur und die Art und Weise, wie Essen in der Gesellschaft verteilt und geteilt wird, dazu. Dabei wird das Ernährungsverhalten massgeblich von der Qualität und Versorgungssicherheit der Nahrungsmittel beeinflusst.

Ernährungssysteme sind dann nachhaltig, wenn sie es den Menschen langfristig ermöglichen, sich gesund, ausreichend und ausgeglichen zu ernähren. Das heute weltweit dominierende Ernährungssystem ist weit von diesem Anspruch entfernt: Die industrielle Landwirtschaft hat dazu geführt, dass die Böden ihre Fruchtbarkeit und Produktivität ganz oder teilweise verlieren (Bodendegradation), und sie trägt massgeblich zum Verlust der biologischen Vielfalt bei, weil unter anderem zu viele künstliche Pestizide eingesetzt werden und die Lebensräume für die Tierwelt zerschnitten sind. Das heutige Ernährungssystem ist zudem höchst energieintensiv: Rund 33 Prozent aller Treibhausgasemissionen gehen auf die Produktion und den Konsum von Lebensmitteln zurück. Der weltweit steigende Fleischkonsum erhöht den Druck auf die natürlichen Ressourcen weiter. Und gemäss der Welternährungsorganisation (FAO) gehen rund ein Drittel aller Lebensmittel verloren: 1,3 Milliarden Tonnen jährlich. Davon werden allein 930 Millionen Tonnen von Haushalten, Gastrobetrieben und vom Einzelhandel weggeworfen.

Ein UN-Gipfel für die Transformation von Ernährungssystemen

Zwei Krisen der jüngsten Vergangenheit haben die Schwächen und Risiken des globalisierten Ernährungssystems drastisch vor Augen geführt: 2007 führte eine Verknüpfung von Naturereignissen, steigenden Energiepreisen, einer erhöhten Nachfrage nach Agrartreibstoffen und Futtermitteln sowie Nahrungsmittelspekulation zu akuten Preissteigerungen und zu Nahrungsmittelknappheit. Und letztes Jahr zerschnitt die Corona-Pandemie entscheidende «Lebensadern» des Ernährungssystems: Versorgungsketten stockten, Bauern blieben auf ihren Ernten sitzen, Konsumentinnen standen vor leeren Marktständen und Regalen, Taglöhner verloren ihr Einkommen, wichtige Dienstleistungen für Transport, Gesundheit und Schule fielen weg, informelle und soziale Netzwerke fielen zusammen. Als Folge davon waren und sind die Menschen in Entwicklungsländern von erheblicher Nahrungsunsicherheit betroffen, gerade in Städten.

Um Ernährungssysteme widerstandsfähiger gegenüber Krisen zu machen, müssen die verschiedenen involvierten Branchen und Fachbereiche enger zusammenarbeiten. Es bedarf einer gemeinsamen Strategie im Sinne der UNO-Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für Nachhaltige Entwicklung (SDGs). Eine solche Strategie muss über SDG 2 hinaus («den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern») auf alle 17 Ziele ausgerichtet werden – insbesondere auf Armutsreduktion, Klima, Trinkwasser und Ressourcenschutz. Angesichts der Dringlichkeit lädt die UNO im September 2021 zum Food Systems Summit, dem UN-Gipfel zu Ernährungssystemen.

Im Vorfeld rief die UNO ihre Mitgliedstaaten sowie nicht-staatliche Akteure auf, in Dialogforen die verschiedenen Herausforderungen zu diskutieren und Massnahmen zur Transformation von Ernährungssystemen auszuarbeiten. Doch es dürfte schwierig werden, sich auf eine gemeinsame Zielrichtung zu einigen: Umwelt- und Entwicklungsorganisationen fordern ressourcenschonendere, klimafreundlichere und sozial gerechtere Ernährungssysteme. Gleichzeitig bringen sich Unternehmen aus der Agrar- und Lebensmittelindustrie in Stellung, denn eine Änderung der heutigen industriellen Landwirtschaft würde ihre Geschäftsmodelle tiefgreifend verändern. Daher befürchten viele zivilgesellschaftliche Organisationen, dass Konzerne den Ernährungsgipfel missbrauchen könnten, um privatwirtschaftliche Agenden voranzutreiben. Um der Zivilgesellschaft eine bessere Plattform zu bieten, planen verschiedene NGOs daher Parallelveranstaltungen zum UNO-Gipfel.

Die Schlüsselrolle der Städte

Beim Entwerfen nachhaltiger Ernährungssysteme wird Städten eine Schlüsselrolle zukommen, sind sie doch besonders verwundbar: Ihre Versorgung hängt direkt von funktionierenden Warenflüssen und zahlbaren Preisen ab. Klimabedingte Ernteausfälle, unterbrochene Lieferketten oder Preissteigerungen treffen Menschen in den Städten des Globalen Südens besonders hart. Ihnen fehlt es oft an sozialen und finanziellen Sicherheitsnetzen: Viele arbeiten im informellen Sektor, fern von der Familie und ohne Möglichkeit zur landwirtschaftlichen Selbstversorgung. So verloren in indischen Städten Millionen von Menschen während der Corona-Pandemie ihre Arbeit, konnten sich nicht mehr ernähren und kehrten zu einem grossen Teil zu ihren Familien aufs Land zurück.

Doch mit der anhaltenden Land-Stadt Migration wird der Druck auf die Städte weiter zunehmen. Laut UN-Berechnungen werden bis 2050 gut 68 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Immerhin sind Städte oft innovativ, werden von den verschiedensten Akteuren bewohnt, haben ein liberales Umfeld und eine lebendige Zivilgesellschaft. Damit bieten Städte ein gutes Fundament, um die Herausforderungen partnerschaftlich anzugehen, etwa mit dem Ansatz der Stadt-Region-Ernährungssysteme (City Region Food Systems). Dieser will Kernstädte und ihr ländliches Umland stärker vernetzen: Städte beziehen Nahrungsmittel, Wasser und Energie zum grössten Teil aus der Region und bieten im Gegenzug der umliegenden Landbevölkerung Jobs, Absatzmärkte und Dienstleistungen. Lokale Wertschöpfungsketten sollen Bauern und Bäuerinnen aus der Region direkter mit städtischen Märkten verknüpfen. Damit wird die Nahrungsmittelversorgung verlässlicher und effizienter in Bezug auf Energieverbrauch und Zeit und Nahrungsmittelabfälle werden reduziert.

Der Fokus liegt dabei auf einer Kreislaufwirtschaft, bei der Ressourcen wie Wasser, Energie oder Nährstoffe möglichst lokal bezogen und laufend wiederverwendet werden. Dies schont die Ökosysteme und senkt die Abhängigkeit von globalen Anbietern und Märkten. Die wichtigste Forderung des Stadt-Region-Ansatzes ist aber, dass Städte partizipative Entscheidungsprozesse etablieren, damit alle beteiligten Akteure aus allen Sektoren des städtischen und des ländlichen Gebiets ihr Ernährungssystem gemeinsam gestalten können.

 

Hinweis: Das diesjährige Helvetas-Symposium «The Hungry City» widmet sich der Thematik urbaner Ernährungssysteme und diskutiert am Beispiel der Stadt Mbeya in Tansania die Chancen und Herausforderungen von Städten. Das Symposium findet am 31. August 2021 online statt und richtet sich an Akteure in der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Anmeldung unter helvetas.org/symposium