Albert Schweitzer auf in Lambarene, Gabun. | © Keystone

Decolonizing Aid

Die Zeit der weissen Retter:innen ist vorbei
VON: Kristina Lanz - 17. Februar 2023
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Machtungleichheit ist in der Entwicklungszusammenarbeit immer noch ein Thema. Ein Wandel findet dort statt, wo auch ernsthaft über die Dekolonisierung reflektiert wird. Ein Gastkommentar.

Die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) hat sich in den letzten 30 Jahren stark gewandelt. Trotz Fortschritten besteht in den Köpfen vieler Menschen nach wie vor ein stark kolonial geprägtes Verständnis von EZA: auf der einen Seite die meist dunkelhäutigen, von Armut betroffenen Menschen, die es anscheinend nicht schaffen, sich selber aus der Armut zu befreien; auf der anderen Seite die überwiegend weissen, altruistischen Helfer:innen, die ihr Know-how nutzen, um den Armen zu helfen. 

Dieses Verständnis zu korrigieren sowie die Definitions- und Entscheidungsmacht über Entwicklung vom Norden in den Süden zu verschieben, steht im Zentrum der Debatte rund um die Dekolonisierung der EZA (decolonizing aid).  

Altruismus oder Eigeninteresse?

1949 sprach der US-amerikanische Präsident Truman das erste Mal in einer Ansprache an die Nation davon, dass die reichen, «entwickelten» Nationen ihren Fortschritt nutzen müssten, um den ärmeren «unterentwickelten» Ländern bei ihrer Entwicklung beizustehen. Die ärmeren Länder sollten die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen und sich mit Hilfe der reicheren Nationen deren Lebensstandard annähern. Während Truman dem aufkommenden Kommunismus Einhalt gebieten wollte, wurde das Konzept auch von den europäischen Kolonialmächten übernommen. So konnte der europäische Einfluss auch in den inzwischen unabhängigen ehemaligen Kolonien bewahrt und gleichzeitig ein Deckmantel der altruistischen Hilfe über die Gräuel der Kolonialzeit gelegt werden. 

Auch die vom Westen propagierten Rahmenbedingungen waren von Anfang an darauf angelegt, politischen Einfluss zu wahren und westlichen Firmen und Regierungen den Zugang zu Rohstoffen und Ressourcen der ärmeren Länder offenzuhalten. Oft war die sogenannte Entwicklungshilfe auch an Bedingungen geknüpft, die den westlichen Firmen einen Absatzmarkt in den ärmeren Ländern garantierten. 

Im Bereich der globalen Wirtschaftspolitik spielten ab den 1960er Jahren auch die vom Westen dominierten globalen Finanzinstitutionen Weltbank und IWF eine zentrale Rolle. Nachdem sich viele der neu unabhängigen Regierungen in den 1960er und 1970er Jahren für den Bau von grossen (oftmals exportorientierten) Infrastrukturprojekten bei der Weltbank und dem IWF stark verschuldet hatten, wurden neue Kredite in den 1980er Jahren an strikte Konditionen zur Marktöffnung und Handelsliberalisierung geknüpft. Während diese sogenannten Strukturanpassungsprogramme (SAP) die globale Wirtschaftsliberalisierung vorantrieben, nahmen Armut und Hunger in den meisten «strukturangepassten» Ländern in dieser Zeitspanne massiv zu. Gleichzeitig entstanden viele NGOs, die neu Aufgaben der durch die SAPs geschwächten Staaten übernahmen, zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Wasserversorgung. 

Erst in den 1990er Jahren kam es aufgrund massiver zivilgesellschaftlicher Proteste an der Politik von Weltbank und IWF sowie vermehrter interner und externer Kritik an der top-down-Agenda der sogenannten Entwicklungshilfe und der verfehlten Armutsreduktion zu einer ersten Selbstreflektion. NGOs und institutionelle Geldgeber räumten Themen wie Menschenrechten, Gouvernanz und politischer Kontextanalyse fortan mehr Platz ein, und messbare Armutsreduktion stand nun explizit im Zentrum der EZA. Aber auch die Koordination unter den Geberländern und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteur:innen im globalen Süden (von Regierungen bis hin zu zivilgesellschaftlichen Organisationen) gewannen an Relevanz. So wurde nun, zumindest offiziell, auch nicht mehr von Entwicklungshilfe gesprochen, sondern neu von Entwicklungszusammenarbeit. 

Das veraltete Entwicklungsbild

Auch wenn in der heutigen EZA das Prinzip der «Zusammenarbeit» sowie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit an Gewicht gewonnen haben, bleibt das kolonialistisch geprägte Bild der «white saviours» (weisse Retter:innen) bestehen. Unangenehme Themen wie Sklaverei, Imperialismus und Kolonialismus sowie bis heute anhaltende, ungerechte globale Handels- und Wirtschaftsbeziehungen werden oftmals verdrängt. 

Bewusst oder unbewusst zementiert auch die heutige EZA durch ihre Kommunikations- und Fundraising-Aktivitäten oftmals ein veraltetes Entwicklungsbild – geprägt von Armutsstereotypen, weissen Retter:innen und fehlender Kontextualisierung. In einem kürzlich veröffentlichten offenen Brief sprechen 93 ukrainische Organisationen und über 100 Individuen Klartext und fordern internationale Organisationen und NGOs auf: «Hört auf, in unserem Namen zu sprechen, und hört auf, Erzählungen so zu steuern, dass sie eure eigenen institutionellen Interessen fördern!» Auch die in der EZA genutzte Sprache kann diese Bilder verstärken – so impliziert das oft genutzte «capacity building» fehlendes Wissen und fehlende Fähigkeiten lokaler Menschen und Organisationen. Die unter dem Mantel von Alliance Sud vereinten NGOs haben dieses Problem erkannt und gemeinsam ein Manifest für eine verantwortungsvolle Kommunikation der internationalen Zusammenarbeit lanciert. 

Die Modalitäten der Zusammenarbeit

 

Neben der dringend nötigen Überarbeitung der Bilder und Narrative, die die EZA vermittelt, werden in der aktuellen Dekolonisierungsdebatte auch die Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen den westlichen Gebern und den lokalen Empfänger:innen kritisiert. Gerade zivilgesellschaftliche Organisationen im Süden, welche in vielen Bereichen – vom Schutz der Menschenrechte über Korruptionsbekämpfung, Umweltschutz und Armutsbekämpfung – wichtige Arbeit leisten, fühlen sich in der aktuellen EZA marginalisiert. Sie bemängeln, dass Entscheide grösstenteils im Westen gefällt werden und sie oft als blosse Implementierungspartner der im Westen definierten Projekte agieren, dass ihnen kein Vertrauen entgegengebracht und ihr lokales Wissen kaum wertgeschätzt wird. 

Tatsächlich wird der internationale Entwicklungssektor nach wie vor von westlichen «Expert:innen» dominiert und es bestehen grosse Disparitäten nicht nur in den Gehältern von Expats und lokalen Mitarbeitenden, sondern auch in deren Entscheidungs- und Handlungskompetenzen. Eine 2019 veröffentlichte OECD-Studie zeigt zudem, dass nur etwa ein Prozent der gesamten bilateralen Entwicklungsgelder direkt an lokale Organisationen in den Entwicklungsländern floss. Die Studie zeigt auch, dass zivilgesellschaftliche Organisationen vorzugsweise als Umsetzungspartner für Projekte und Prioritäten der Geberländer eingesetzt und nur selten als eigenständige Entwicklungsakteur:innen angesehen werden. Hinzu kommt, dass komplizierte bürokratische Prozeduren und Vorgaben bei den Geldgebern den Zugang zu Finanzierung gerade für kleinere, lokale Organisationen massiv erschweren. 

Die Zukunft der EZA

Die «Decolonizing Aid»-Debatte ist wichtig, zeigt sie doch auf, dass auch die EZA nicht frei ist von überholten kolonialen Denk- und Verhaltensmustern. Allerdings ist es auch in dieser Debatte wichtig, nicht zu pauschalisieren. Die Geschichte der Weltbank und des IWF ist eine andere als die Geschichte der UNO, der bilateralen EZA oder der NGOs. Und auch wenn die EZA als Ganzes noch weit entfernt ist von einer komplett dekolonisierten Zusammenarbeit und gleichberechtigter Partnerschaft, hat sich doch in den letzten Jahren vieles zum Positiven verändert. Menschenrechte und Demokratisierung sind wichtiger geworden, die Lokalisierung, also die Verschiebung der Verantwortung in die Partnerländer, und auch die Dekolonisierung der EZA werden zwar schon seit langem, aber endlich intensiv auf verschiedenen Ebenen ernsthaft diskutiert und vorangetrieben. So stellen verschiedene NGOs in ihren Auslandbüros hauptsächlich lokale Mitarbeitende ein oder arbeiten ausschliesslich mit lokalen Organisationen zusammen. Zudem ist die Arbeit verschiedener internationaler Organisationen und NGOs politischer geworden: Gemeinsam mit NGOs im Süden werden globale Ungerechtigkeiten angeprangert und bekämpft. 

Für die Zukunft der EZA ist es nun wichtig, den Worten wirklich Taten folgen zu lassen, bestehende Muster aufzubrechen, Entscheidungsmacht zu teilen und Platz für nicht-westliche Denk- und Handlungsmuster zu machen: Nur so wird eine wahre Zusammenarbeit ermöglicht. Ausserdem muss ein klares neues Narrativ aufgebaut werden – weg von «Hilfe» hin zu Verantwortung und Wiedergutmachung, weg von «entwickelten» und «zu entwickelnden» Ländern, von «Helfer:Innen» und «Begünstigten» hin zu gemeinsamen globalen Lern- und Entwicklungsprozessen in Richtung globaler Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit.   

Viele der heutigen Probleme der ärmeren Länder haben ihren Ursprung im globalen Norden: Rohstoffabbau, Steuerhinterziehung, illegitime und illegale Finanzflüsse oder die sich zuspitzende Klimakatastrophe sind da nur einige Beispiele. Um diese Probleme an der Wurzel anzugehen, braucht es die grenzüberschreitende Vernetzung und Zusammenarbeit mehr denn je. 

 

* Kristina Lanz ist Fachverantwortliche Entwicklungspolitik bei Alliance Sud. Der Gastkommentar ist eine gekürzte Version eines Textes, der in  «Global», dem Magazin von Alliance Sud, erschien.

Eine kritische Auseinandersetzung ist wichtig

Als grösste Schweizer Entwicklungsorganisation ist sich Helvetas ihrer Verantwortung bei der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Machtverhältnissen in der EZA sowie den überdauernden Stereotypen von passiven Hilfsempfänger:innen bewusst. Ein Shitstorm von Aktivist:innen gegen eine Werbekampagne hat vor einigen Jahren einen Prozess des intensiven Nach- und Überdenkens der bisherigen Kommunikations-Praxis von Helvetas ausgelöst. Am oben erwähnten Manifest für eine verantwortungsvolle Kommunikation der EZA-Organisationen hat Helvetas massgeblich mitgewirkt, und sie beteiligt sich aktiv am Lernprozess in der Branche. Neben der Kommunikation stellt sich Helvetas der Debatte auch auf der Ebene ihrer Projektarbeit. Die überwiegende Mehrheit ihrer Mitarbeitenden in den Partnerländern rekrutiert Helvetas schon seit Längerem vor Ort. Die Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen und der Wissenstransfer sind heute ein zentraler Pfeiler ihrer Arbeit. Es braucht aber weitere Schritte, um die Machtverhältnisse zugunsten der Partner im globalen Süden zu verschieben. Entscheidend sind hier auch die politischen Verhältnisse, weshalb sich Helvetas in der Schweiz und mittels Unterstützung lokaler Partner in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas vermehrt für politische Veränderungen zugunsten der Menschen im globalen Süden einsetzt. -MAH